Lust an der Provokation
Fast alles sprach gegen eine Annäherung zwischen der Türkei und Russland. Zumindest wenn man konzediert, dass Vergangenheit und Gegenwart "fast alles" umfassen. Es ist eine der großen und wirkmächtigen Erbfeindschaften der Geschichte.
Seitdem die Osmanen Konstantinopel im Jahr 1453 erobert hatten, träumten die Moskauer Großfürsten, die sich seit Iwan dem Schrecklichen "Zaren" nannten, davon, die heilige Stadt der orthodoxen Christenheit in deren Namen "zurückzuerobern". Die russischen Zaren wollten an den östlichen Ufern des Mittelmeers das Erbe von Byzanz antreten.
Im Ersten Weltkrieg standen Russland und das Osmanische Reich folgerichtig im jeweils feindlichen Lager. Das brutale Vorgehen gegen die Armenier, das heute in weiten Teilen der Welt als Völkermord bezeichnet wird, begründeten die Türken unter anderem damit, das die armenischen Untertanen heimliche Helfer Moskaus gewesen seien.
Lenin und Atatürk schlossen einen Burgfrieden, nachdem die beiden Revolutionäre die jeweiligen Herrscherdynastien gestürzt hatten. Beide Republikgründer waren mehr mit der Innenpolitik als mit ihrer Erbfeindschaft beschäftigt.
Kleinasiatisches Bollwerk gegen die Sowjets
Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich die russisch-türkische Rivalität unter den Vorzeichen des Kalten Krieges fort. Die türkische Republik schlüpfte unter das Dach der NATO und wurde ein wichtiger Verbündeter der Vereinigten Staaten. Für die USA war die Türkei das kleinasiatische Bollwerk gegen eine befürchtete Expansion der Sowjetunion nach Süden.
Wenn NATO-treue türkische Generäle in den Sechzigern, Siebzigern und Achtzigern gegen "unzuverlässige" Regierungen in Ankara putschten, konnten sie sich des Wohlwollens der Amerikaner sicher sein. Washington drückte sogar ein Auge zu, als die Türkei 1974 in einem kurzen Feldzug den Norden Zyperns besetzte.
Dass der junge Kaukasusstaat Armenien unter dem Schutz Moskaus steht, ist heute beinah das kleinere Hindernis, das einer russisch-türkischen Annäherung entgegensteht. Wirkmächtiger scheint die gegensätzliche Positionierung im Syrienkrieg. Russland stand von vornherein an Assads Seite und hat ihn mit der seit September 2015 laufenden Militärintervention sogar vorläufig gerettet. Die Türkei unterstützte in Syrien früh die Rebellen und änderte daran auch nichts, als radikale sunnitische Gruppierungen die Oberhand in deren Reihen gewannen.
Gemeinsame strategische Interessen
Und trotz alledem findet jetzt eine russisch-türkische Annäherung statt. Es wäre albern, diese damit zu begründen, dass beide Staaten von ähnlichen Typen regiert werden. Dass Putin und Erdogan ähnliche Vorstellungen von Macht, Machterhalt und der Rolle der Opposition im Staat haben. Es scheint vielmehr plötzlich gemeinsame strategische Interessen und Ziele zu geben, die alles Trennende in Frage und vielleicht sogar in den Schatten stellen.
Die Gasleitung "Turkish Stream", die den russischen Rohstoff durch das Schwarze Meer in die Türkei und von dort vielleicht bis Griechenland und Italien leiten soll, zeugt vom Willen zu wirtschaftlicher Zusammenarbeit im großen Stil. Es scheint aber falsch und zu "modern-europäisch" gedacht, bilaterale russisch-türkische Interessen im Energiebereich als ausschlaggebend für die Annäherung zu halten.
Die Welt wandelt sich rasant, und einer der politischen Treiber dieses Wandels ist der russische Präsident Putin. Der starke Mann im Kreml und Ex-KGB-Spion möchte die als Demütigung empfundene Zurückdrängung des russischen Einflusses nach dem Ende des Kalten Krieges aufhalten und, wo möglich, rückgängig machen. Mit anderen Worten: Er möchte sich am Westen, vor allem an der Führungsmacht USA, rächen.
Aggressive Bündnispolitik
Dabei weiß er seine Möglichkeiten offenbar recht realistisch einzuschätzen und greift zu Mitteln, die den Gegner spürbar irritieren: asymmetrische Kriegführung, verdeckte Kriegführung, Desinformation, Cyberwar – und: aggressive Bündnispolitik im Mittleren Osten. Putin weiß, dass er den Westen nicht direkt schlagen kann. Aber er kann den Gegner mit vielen Nadelstichen ärgern, stören und provozieren . Er kann dem Westen dabei helfen, sich selbst zu besiegen. Insofern hat der russische Präsident vielleicht sogar von Al-Qa'ida und 09/11 gelernt.
Putin weiß: Wenn es ihm gelänge, die Türkei auch nur ein Stück weit aus dem westlichen Bündnis herauszubrechen, träfe dies den Westen härter als der Stopp des EU-Beitritts der Ukraine und die russische Annexion der Krim. Der gescheiterte Putsch gegen Präsident Erdoğan im vergangenen Juli schuf für Putin eine willkommene Gelegenheit, die durch den Abschuss des russischen Kampfflugzeugs über der türkisch-syrischen Grenze Ende 2015 kurzzeitig unterbrochene Annäherung zwischen Russland und der Türkei wieder voranzutreiben. Künftige Geschichtsforschung wird ergründen müssen, ob der Abschuss das Ergebnis routinemäßiger militärischer Abläufe innerhalb der türkischen Luftverteidigung oder der bewusste Versuch einer interessierten Partei war, die russisch-türkische Annäherung zu stoppen. Letzteren Eindruck beabsichtigt Erdoğan jedenfalls zu erwecken, wenn er sagt, dass die beiden türkischen Soldaten, die den russischen Suchoi-Jet vom Himmel holten, Mitglieder der Gülen-Bewegung und nach dem Putschversuch festgenommen worden seien.
Wie genau das russisch-türkische Rapprochement sich auf das syrische Schlachtfeld auswirken wird, ist noch nicht abzusehen. Auffällig ist allemal, dass die türkischen Panzerverbände, die Ende August auf syrisches Territorium vorgedrungen sind, ausgerechnet die "Demokratischen Kräfte Syriens" (SDF) dezimiert haben. Das ist eine kurdisch-arabische Miliz, die mit US-amerikanischer Hilfe dem "Islamischen Staat" Verluste zugefügt hatte.
"Türkischer Abschied von Amerika"
Putins Absicht, in Syrien eine Friedensordnung zu verhindern, die vom Westen und den sunnitischen Golfmonarchien aufgezwungen wird, hat sich klar manifestiert. Möglicherweise will er Erdoğan dafür gewinnen, zusammen mit Russland eine alternative Friedensordnung durchzusetzen, in der Assad oder ein Nachfolger aus dessen Regime eine Zukunft hat. Erdoğan wird sich für vieles hergeben, wenn garantiert ist, dass auf syrischem Territorium kein von der PKK dominierter kurdischer Kleinstaat entsteht.
Ohne Gegenwehr werden die USA den "türkischen Abschied von Amerika", wie es der Journalist Can Dündar formulierte, nicht hinnehmen. Das russisch-amerikanische Ringen um die Türkei ist in vollem Gang, auch wenn die Einzelheiten nicht in den täglichen "Nachrichten" auftauchen. Klar ist, dass im Buhlen um die Türkei sowohl Washington als auch Moskau bereit sind, die Kurden als Verbündete fallen zu lassen.
Mit dem nötigen Misstrauen sind die Äußerungen des deutschen Außenministers nach dem Treffen zwischen Putin und Erdoğan Anfang August in St. Petersburg zu werten. Steinmeier spielte die Bedeutung herunter. Die der Bundesregierung angeschlossenen außenpolitischen Kommentatoren der überregionalen Tageszeitungen pflichteten ihm eifrig bei. Sie verwiesen darauf, dass das "Handelsvolumen" zwischen der Türkei und der EU ja viel größer sei als zwischen der Türkei und Russland.
Das Aufaddieren von Handelsvolumina mit dem Taschenrechner verstellt den Blick auf die Tatsache, dass Rache, Schadenfreude und das Durchkreuzen der Pläne des Gegners leitende politische Motive sein können. In solchen Motiven scheinen der russische und der türkische Präsident eine Gemeinsamkeit zu finden.
Statt diese Entwicklung mit publizistischer Hilfe kleinzureden, müsste sich die Bundesregierung fragen, wie es so weit kommen konnte. Die historische Unwahrscheinlichkeit der russisch-türkischen Annäherung müsste zu denken geben. Wie groß muss der Verlust von Ansehen, Attraktivität und auch von Abschreckungskraft des westlichen Bündnisses sein, wenn es Staatschefs wie Putin und Erdoğan eine Freude ist, durch ihr Rendez-vous genau diesem Westen eins auszuwischen? Vielleicht wird es ja die letzte große Leistung des westlichen Bündnisses gewesen sein, die Erbfeindschaft zwischen Russland und der Türkei beendet zu haben.
Stefan Buchen
© Qantara.de 2016
Stefan Buchen arbeitet als Fernsehjournalist für das ARD-Magazin "Panorama".