Die Menschen vor Ort einbeziehen
Weltweit gibt es immer weniger natürliche Landschaften. Rund 30 Prozent der Naturwälder werden schätzungsweise bis Ende dieses Jahrhunderts verloren gehen. Zudem ist ein Viertel der gesamten Landfläche der Erde von Versteppung bedroht. Starke Bodenerosion, zurückgehende landwirtschaftliche Produktivität, Ernährungsunsicherheit und abnehmende Biodiversität sind die Folgen.
Marokko ist da keine Ausnahme. Mehr als 90 Prozent der ursprünglichen Bewaldung des Landes sind bereits durch Übernutzung, Überweidung und den Klimawandel zerstört. Das verheerende Ausmaß der Umweltzerstörung in Marokko stellt eine Gefahr für Flora und Fauna dar. Mehr als 223 Pflanzen- und Tierarten des Landes stehen auf der Roten Liste der Weltnaturschutzunion IUCN.
Erosion, Überschwemmungen und Bodenverschlechterung haben auch starke Auswirkungen auf das Leben der Menschen. Das gilt besonders in der Atlas-Region, wo die Lebensgrundlagen von natürlichen Ressourcen abhängen. Die betroffenen Menschen leben im sozialen Abseits und in struktureller Armut.
Den zerstörerischen Trend aufhalten
Vor diesem Hintergrund ist Umweltschutz ein bedeutendes Entwicklungsthema. Politisches Ziel muss es sein, alle zerstörerischen Tendenzen aufzuhalten. Folglich wurde eine ganze Reihe von Projekten gestartet, um den lokalen Gemeinschaften die Kontrolle über ihre natürlichen Ressourcen zu geben und gleichzeitig sozioökonomische Vorteile zu schaffen. Umwelt- und soziale Probleme auf einmal anzugehen ist allerdings eine Herausforderung. Viele Projekte haben entweder ihre Umweltschutz- oder ihre Entwicklungsziele verfehlt – oder beides.
Daher ist es wichtig, effektive Herangehensweisen zu identifizieren und aus den Erfahrungen zu lernen. Die "High Atlas Foundation" (HAF), eine gemeinnützige Organisation mit Sitz in Marokko und den USA, führt ein Agroforstprogramm zugunsten der Armen in dem nordafrikanischen Land durch, das ich im Auftrag der HAF untersucht habe. Dabei habe ich sowohl die Verbindungen zwischen Umweltschutz und Maßnahmen auf Ebene der Gemeinschaften als auch ihre Auswirkungen auf Armutsreduzierung und Artenschutz analysiert.
Dazu gehörten die Auswertung relevanter Unterlagen und 34 Interviews und Diskussionen mit sechs Fokusgruppen. Auf Grundlage dieser Daten haben unabhängige Experten den Erfolg des Programms bewertet, geprüft, welche Maßnahmen zielführend waren, Versäumnisse identifiziert und Empfehlungen ausgesprochen. Die Evaluierung ergab, dass das Programm sehr effektiv war und als internationales Modell dienen sollte.
Hilfe zur Selbsthilfe
Seit 2003 hat die HAF 3,6 Millionen Bäume und andere Pflanzen gepflanzt. 2018 gingen die Zahlen stark nach oben, da vier Baumschulen in Zusammenarbeit mit der marokkanischen "High Commission of Water and Forests and Ecosia" hinzukamen, einem sozialen Unternehmen mit Sitz in Berlin.
Eine erfolgreiche Maßnahme bestand darin, Obstbäume zu verteilen. Subsistenz-Bauern, die ursprünglich Gerste oder Mais anbauten, begannen nun, biologisch erzeugtes Obst, das sie nicht selbst verbrauchten, zu verkaufen und so ihr Einkommen zu verbessern. Außerdem vermindern die Bäume Bodenerosion und Überschwemmungen, ihre Anpflanzung trägt also zum Umweltschutz bei.
Bodenqualität und Pflanzenvielfalt spielen eine große Rolle, da Erosion und Versteppung unmittelbare Bedrohungen darstellen, verstärkt durch Ackerbau und Viehzucht. Ein Bauer stellte fest: "Früher haben wir nur Gerste und Mais angebaut, und der Boden wurde schnell schlechter, so dass Erosion uns das Land geraubt hat. Heute verhindern das die Bäume. Außerdem haben wir mehr Bienen, weil sie die Blüten lieben."
Kirschbäume machen den Unterschied
Im Tifnoute-Tal in der Provinz Taroudant verteilte die HAF beispielsweise zehn bis 100 Kirschbäume pro Bauer und bot ihnen eine entsprechende Fortbildung an. Jeder Baum bringt jährlich zwischen 21 und 105 Dollar ein, je nach Wasserverfügbarkeit, der Härte des Winters und anderen Faktoren. Im Durchschnitt ist der Gewinn aus dem Kirschenverkauf zehn Mal höher als der aus Gerste und Mais.
Unterm Strich konnte die HAF das Einkommen von rund 10.000 Haushalten verbessern. Ein Bauer sagte: "Bevor wir Kirschen anbauten, mussten wir hart arbeiten, um Gerste und Mais anzubauen. Wenn ich alles zusammenrechnete und die gesamte Gerste und den gesamten Mais verkaufte, ohne etwas für mich selbst zu behalten, verdiente ich nur 53 Dollar im Jahr. Ein paar Jahre nachdem die Stiftung mir Bäume gegeben hatte, konnte ich die Früchte für 528 bis 1.055 Dollar verkaufen, je nach dem Ertrag meiner Bäume. Mit diesem Einkommen habe ich das Leben meiner Familie verbessert."
Höhere Einkommen versetzten die Gemeinschaften in die Lage, in Infrastruktur wie Schulen oder Gesundheitseinrichtungen zu investieren. Der Schlüssel dazu lag in dem ganzheitlichen Ansatz der HAF, der die lokalen Gemeinschaften sinnvoll beteiligte. Dorfbewohner sind in jeden Schritt mit einbezogen. Sie treffen Entscheidungen und nehmen den Wandel immer mehr selbst in die Hand.
Vielseitige Formen der Armutsbekämpfung
Die Einbeziehung der Menschen stellt eine frühe Beteiligung der Gemeinschaft sicher, verhindert, dass die Programme von externen Interessen geleitet werden und garantiert ein vollständiges Verständnis des lokalen Kontextes. Außerdem betreibt die HAF Armutsbekämpfung aus allen Richtungen, mit Workshops für die Stärkung von Frauen, die Verbesserung von Fähigkeiten, Alphabetisierung und so weiter.
Die HAF erkennt an, dass Armut nicht einfach in einem Mangel an Einkommen oder Nahrungsmitteln besteht, sondern sich auch in fehlendem Zugang zu Bildung und Chancen im Allgemeinen zeigen kann. Befähigung dient dazu, Ungleichheit zu verringern.
Ein Frau sagte: "Diese Gärtnerei hat unser Leben verändert. Vorher wurde von uns erwartet, dass wir zu Hause bleiben. Dank der Hilfe der Stiftung können wir nun in der Gärtnerei arbeiten, neue Fähigkeiten lernen, unser eigenes Geld verdienen und zum Lebensunterhalt unserer Familien beitragen. Das macht unser Leben viel leichter, und die Männer fangen an, uns zu respektieren. Wir sind sehr stolz auf das, was wir tun, selbst wenn es Probleme gibt. Wir haben gelernt, Probleme gemeinsam anzugehen, Lösungen zu suchen und dranzubleiben."
Das HAF-Programm zeigt, dass eine sinnvolle Beteiligung der Gemeinschaften durch partizipative Methoden unabdingbar für nachhaltigen, langfristigen Erfolg ist. Sie sollte niemals nachrangig oder nur rhetorisch sein, sondern grundsätzlicher Teil jedes Umwelt- und Entwicklungsprojektes. Die HAF ist gerne bereit, Informationen und ihre Erfahrungen an Interessenten weiterzugeben.
Ein Bauer resümierte: "Ich habe große Erwartungen an die Zukunft. Die Bäume, die wir gepflanzt haben, werden der Umwelt zugutekommen und Bodenerosion verhindern, und das Projekt wird den Gemeinschaften und Organisationen in dieser Gegend zugutekommen."
Kerstin Opfer
© Zeitschrift Entwicklung und Zusammenarbeit 2019
Kerstin Opfer hat einen Master in Umwelt und ländlicher Entwicklung von der Universität Kent. Sie hat vier Jahre in Marokko verbracht und das Programm der "High Atlas Foundation" von April bis September 2018 evaluiert.