Drei Plagen
Im Rifgebirge gibt es drei Plagen: Schattenwirtschaft, Einöde und ein Überschuss an Zeit. Zusammen ergeben sie die fatale Mischung, die gegenwärtig den Norden Marokkos heimsucht.
Die erste Plage erscheint genau genommen zunächst wie ein Segen. Ohne den Schmuggel beispielsweise hätte eine Region wie das Rif vielleicht gar nicht überlebt. Zigaretten, Alkohol, Kleidung oder Elektronik sind die Dinge, die Spanien in Massen hat und die man in Marokko gerne hätte. Das illegale Geschäft ist ein hartes Stück Arbeit, denn um die Waren von der einen auf die andere Seite der Grenze zu schaffen, müssen weite Strecken unter schwerer Last zurückgelegt werden. Doch ohne die anstrengenden Touren könnten sich viele Familien nicht über Wasser halten, Alternativen zum Schwarzhandel gibt es so gut wie keine.
Im Rif wird diese harte Arbeit vor allem von Frauen gemacht. Sie sind es, die sich jeden Tag auf den Weg machen in Richtung der spanischen Grenze, um in den Enklaven Ceuta und Melilla steuerfrei Waren einzukaufen, die sie dann in Marokko weiterverkaufen können. Die Schmugglerinnen müssen Mitten in der Nacht aufbrechen und viele Kilometer gehen, um sich am frühen Morgen an der Grenze rechtzeitig einen Platz in der Schlange zu sichern. Die Konkurrenz ist groß, bis zu 25.000 weitere Schmuggler wollen ebenfalls in die Innenstädte von Ceuta und Melilla.
Den besten Platz in der Schlange sichern
Wenn die Grenze öffnet, beginnt der Kampf: Wer ist am schnellsten bei den Warenhäusern der Stadt, wer ersteht zuerst die begehrten Güter, wer die besten, wer die meisten? Besonders das letzte zählt, denn es gilt, sich so viel wie möglich auf den Rücken zu laden, damit sich die Tour lohnt. Die Pakete sind größer als die Frauen selbst und wiegen zwischen 50 und 90 Kilogramm. Zu Fuß treten sie den Rückweg über die Grenze an, unter der brennenden Sonne muss das Gewicht auf dem Rücken noch viel drückender sein.
Viele kommen an diesem Tag nochmal wieder, manche sogar bis zu sechs Mal, um so viel zu verdienen, dass sie ihre ganze Familie davon ernähren können. Kaum eine Frau arbeitet nur für sich, sagt die Frauenrechtsorganisation Tawaza, die sich mit dem Phänomen beschäftigt. Die allermeisten würden sofort damit aufhören, wenn sie könnten - besonders die Älteren.
Man muss sich vorstellen, was am Grenzübergang los ist, wenn die Händler alle gleichzeitig zurück auf die marokkanische Seite drängen: Menschenmengen schieben sich mal im Laufschritt, mal nur stockend durch die straßenbreite Grenzpassage, auf dem Rücken die riesigen Pakete, Männer wie Frauen unter der Last gebeugt. Alles unter den wachenden Augen von spanischen Grenzbeamten und marokkanischer Polizei. Warum lässt man sie gewähren?
Blühender Schwarzhandel
Weil ganze Städte an der Grenze von dem illegalen Handel leben, auf der einen wie auf der anderen Seite. Für Ceuta etwa, das sonst nur für seinen schlechten Umgang mit Flüchtlingen berühmt ist, ist der Schwarzhandel sogar zur Haupteinnahmequelle geworden, ein Leben ohne ihn schon lange nicht mehr denkbar. Auf der anderen Seite, in Marokko, sind es rund 400.000 Menschen, die indirekt abhängen von der Arbeit der Frauen. Die Schmugglerinnen ernähren so allein fast ein Zehntel der gesamten Bevölkerung Nordmarokkos. In den Bergen des Rif gibt es wenig, womit man stattdessen Handel treiben könnte, denn was hier sonst angebaut wird, ist nicht für den einfachen Weiterverkauf gedacht.
Gleichzeitig ist das illegale Grenzgeschäft mit Spanien aber auch genau daran schuld, dass es nichts anderes gibt. Denn so sieht die Regierung im weit entfernten Rabat wenig Anlass, Agrar-, Wirtschafts- und Bildungsprogramme für die Region aufzulegen - sie versorgt sich ja selbst.
Sackgasse Rifgebirge
Und das ist ihre zweite Plage. Seit langer Zeit schon ist die Provinz eine Einöde. Sie ist nicht nur geografisch weitab vom Schuss, sondern wollte auch kulturell und politisch nie zu Marokko gehören. Diese Abschottung bringt viele Nachteile mit sich und gleichzeitig bietet sie den Nährboden für das zweite illegale Geschäft, mit dem sich die Gegend am Leben hält.
Topografisch steckt die unzugängliche Bergregion in einer Sackgasse: Im Norden das Mittelmeer, im Osten die dauerhaft geschlossene Grenze zu Algerien, im Süden die Kette aus hohen Berggipfeln des Rif, im Westen der Atlantik. Von manchem Ort aus sind es 70 Kilometer bis zur nächsten Straße. Auch der Blick auf das marokkanische Bahnnetz macht deutlich, welche Bedeutung die Region für den Zentralstaat hat: Die vielleicht besten Züge auf dem afrikanischen Kontinent fahren am Atlantik zwischen Casablanca und Tanger - und damit woanders.
Nur wenige Schlenker zu wichtigen Städten im Landesinneren wie Marrakesch, Fes oder Oujda macht die Bahnstrecke und markiert so die Gegenden, in die die staatlichen Investitionen in Infrastruktur, Wirtschaft, Bildung und Verwaltung geflossen sind. Und sie führt ziemlich genau einmal um die Rifregion herum.
Die Bevorzugung von manchen Gebieten und die Benachteiligung anderer hat Tradition im Königreich - bereits Hassan II., der Vater des amtierenden Königs Mohammed VI., mied das Rif konsequent. Nicht einen Fuß setzte er dorthin und Geld gab er dort schon gar nicht aus. Er regierte 38 Jahre lang. So mussten die Rifbewohner seit jeher sehen, wo sie bleiben.
Cannabisproduktion in rauen Mengen
Für eines aber ist die abgeschiedene Lage geradezu ideal: Hier wird in großem Stil Cannabis angebaut. Für seine riesigen Plantagen ist die Rifregion weltberühmt, der kleine Landstrich ist bereits seit den achtziger Jahren der größte Produzent und Exporteur von Haschisch, noch vor Afghanistan.
Die Hälfte allen Haschischs auf der Welt soll aus Marokko kommen, wo bis zu 200.000 Bauern Hanf anbauen und indirekt 700.000 Menschen davon leben. Dennoch ist das Rif eine der ärmsten Gegenden im Land. Eine Provinz wie Chefchaouen im Herzen des Gebirges wendet für Cannabis große Teile seiner Anbauflächen auf, wie der aktuelle Bericht des Büros der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung zeigt. Da bleibt nur wenig für alternative Produkte wie Oliven oder Feigen, die Cash crops verdrängen alles. Sogar der Tourismus in der Region konzentriert sich auf die Hanfplantagen.
Das ganz große Geschäft mit den Drogen aber machen andere, die Hanfbauern verdienen selbst nur wenig an der Produktion. Nach der Ernte verbringen sie einen großen Teil ihrer Zeit mit dem sogenannten "Klopfen": Im Sommer tönt es von überall her in den Bergen, denn die Herstellung von Haschisch ist hier immer noch Handarbeit, die mit einfachsten Mitteln und überwiegend von Männern erledigt wird. Mit zwei Stöcken wird so lange auf die getrockneten Blüten eingeschlagen, bis sie ein paar Gramm ihrer Harzkristalle freigeben. Daraus wird Haschisch gepresst.
Aus 100 Kilogramm Rohpflanze werden je nach Qualität ein bis drei Kilogramm Rauschmittel gewonnen. Wie in der traditionellen Landwirtschaft packen Frauen und Kinder mit an. Hanfplantagen sind meistens kleine Familienbetriebe mit ein paar Ernte- und Produktionshelfern aus der Umgebung. Irgendwann einmal soll der Sohn den Hof übernehmen, der ihn dann an seinen Sohn weitergibt, damit der ihn seinerseits an seinen Sohn vererbt. So sichern die Hanfbauern im Rif seit Jahrhunderten ihre Zukunft und die ihrer Kinder. Nur, dass von den jungen Leuten heutzutage kaum mehr jemand eine große Zukunft als Hanfbauer sieht. Denn sie wollen lieber studieren und dann nichts wie weg.
Die Haschischbauern haben viele Probleme – sie streiten sich mit anderen um das knappe Wasser, lassen sich von Zwischenhändlern in die Mangel nehmen und leben in ständiger Furcht vor der Polizei. Großeinkäufer gehen von Farm zu Farm und sammeln im Wochentakt das Endprodukt ein, für ein paar Hundert Euro. Manchmal führt auch die Polizei Razzien durch. Und dann geht es den einfachen Bauern an den Kragen, denn die wenigsten von ihnen können sich die hohen Schmiergelder leisten, die sie vor dem Gefängnis bewahren würden. Das können nur die großen Drogenbarone mit ihren Beziehungen zu internationalen Kartellen.
Neue Allianz aus Drogenmafia und Terrorgruppen
Doch nicht nur die Drogenmafia nutzt die Abgeschiedenheit der Rifregion für ihre Zwecke. Auch Terroristen finden hier Unterschlupf. Seit einiger Zeit sollen sich Drogenmafia und Terrorgruppierungen für ihre Geschäfte zusammengeschlossen und ein gemeinsames Kartell gebildet haben. Dessen Netzwerk reicht sogar bis zum IS, der sich so in den Cannabishandel einklinken und junge verzweifelte Rifmarokkaner rekrutieren konnte.
Diese jungen Verzweifelten sind vielleicht der dritten Plage zum Opfer gefallen: der Zeit. Davon haben besonders die jüngeren Bewohner im Rif reichlich, vor allem in den Städten, viel mehr noch als anderswo in Marokko. Es gibt gleichzeitig aber nur sehr wenig, das sie mit ihrer Zeit anfangen könnten.
Leben als Müßiggang
In einer Stadt wie Al-Hoceima zum Beispiel, die am Mittelmeer fast genau zwischen Ceuta und Melilla liegt, gibt es einfach nichts zu tun: keine Freizeitangebote, keine Kultur, keine Arbeit. Deshalb hängen die Jungen einfach nur herum und rauchen, tagsüber auf Plätzen und an Straßenecken, abends in den Cafés. Hier schlagen sie stundenlang die Zeit tot und trinken Tee. Jedenfalls sieht man hier die männlichen Einheimischen, Frauen sind in öffentlichen Cafés nicht erwünscht und müssen zu Hause bleiben. Junge arbeitslose Leute gibt es in dem Küstenort wie Sand am mehr – wie fast überall in Nordafrika, wo der Altersdurchschnitt bei rund 25 Jahren liegt.
Viele leben von Gelegenheitsjobs, für sieben bis zehn Euro am Tag helfen sie in einer Schneiderei aus oder waschen in einer Küche das Geschirr. Drei bis vier Monate im Jahr sind sie so beschäftigt, den Rest der Zeit auf Arbeitssuche.
Flucht als letzter Ausweg
Worüber unterhalten sich die Leute, wenn sie so zusammensitzen? Die Gespräche kreisen immer um dasselbe Thema: das Auswandern. Davon träumen hier alle. Sie wollen nach Spanien, Belgien oder Deutschland, ganz egal wohin. Hauptsache Europa, wo alles besser ist. Schon Kinder und Jugendliche sprechen davon, dass sie weg wollen aus Al-Hoceima und malen sich ihre Zukunft an einem anderen Ort der Erde aus. Ihnen bleibt nur die Hoffnung, eines Tages von hier fort zu kommen.
Jedenfalls war das bis Ende des letzten Jahres so. Dann geschah etwas, das neue Hoffnungen weckte und plötzlich begann man sich darüber zu unterhalten, dass man gemeinsam vielleicht doch etwas ändern könnte.
Aus dieser Hoffnung speist sich seit einigen Monaten schon eine große Bewegung. Die Jugend im Rif hat genug von ihrem Leben und der trüben Zukunft. Im November 2016 war es, als einer von ihnen, der Arbeit hatte, unter nie ganz geklärten Umständen zu Tode kam. Mohsin Fikri war Fischhändler und stieß mit der Polizei zusammen. Als die Polizisten seinen illegalen Schwertfischfang beschlagnahmten und in einen Müllwagen warfen, sprang er hinterher. Warum daraufhin die Müllpresse angestellt wurde, die ihm zum Verhängnis wurde, darüber kann nur noch spekuliert werden.
Der Aufruhr aber, der daraufhin losbrach, dürfte die staatliche Ordnungsmacht in seiner Heftigkeit und Hartnäckigkeit überrascht haben. Bis heute können sich die Machthaber in Rabat nicht vorstellen, warum die vielen jungen Menschen in Al-Hoceima nichts besseres zu tun haben, als regelmäßig Massenproteste zu organisieren und ihrem Frust auf der Straße Luft zu machen. Und vielleicht waren auch die jungen Demonstranten zunächst überrascht. Doch was sollten sie anderes tun?
Und hier genau liegt wohl auch das Problem. Die Proteste werden aus diesem Grund nicht aufhören. Und wenn doch, werden sie früher oder später erneut aufflammen, vielleicht an einem anderen Ort in Marokko. Vielleicht auch in Tunesien, Algerien oder Libyen. Die drei Plagen des Rif kennt man in ganz Nordafrika.
Susanne Kaiser
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