Gewagtes Experiment
Um die iranische Gesellschaft zu verstehen, muss man sich mit den regimetreuen Milizen, den sogenannten "Bassidschi", befassen. Diese Volksmiliz wurde 1979 gegründet. Damals, im Iran-Irak-Krieg von 1980 bis 1988, ließ Revolutionsführer Ayatollah Khomeini Zehntausende "Bassidschi", darunter viele Jugendliche, in den Krieg ziehen – wobei viele von ihnen bei Himmelfahrtskommandos den Tod fanden. Mittlerweile fungieren die "Bassidschi" auch als Helfershelfer der Islamischen Revolutionsgarde ("Sepah-e Pasdaran"), die 2009 Jagd auf friedliche Demonstranten der grünen Protestbewegung im Iran machten.
Der in Paris lebende iranische Filmemacher Mehran Tamadon hatte sich bereits 2009 in seinem Film "Bassidji" mit der islamistischen Miliz thematisch auseinandergesetzt. Auf der diesjährigen Berlinale präsentierte er nun eine weitere Dokumentation: "Iranien", eine französisch-schweizerische Filmproduktion. Darin geht es um einen ungewöhnlichen Dialog: Zwei Tage lang lebt der Regisseur gemeinsam mit vier islamistischen Klerikern in einem Landhaus seiner Familie außerhalb Teherans und diskutiert mit ihnen vor laufender Kamera über ihre konträren Ansichten in Hinblick auf die iranische Gesellschaft und Fragen der Religion.
Mehran Tamadon verließ 1984 den Iran, als er noch ein Kind war. Der Sohn aktiver Kommunisten studierte in Paris Architektur, bevor er im Jahr 2000 in den Iran zurückkehrte und später Filmregisseur wurde.
Nach den Spielregeln der Hardliner
In "Iranien" geben die vier geladenen Mullahs sich freundlich und bisweilen gar humorvoll. Einer von ihnen beneidet Mehran Tamadon dafür, dass seine Frau ihn dieses Wochenende in Ruhe lasse. Seine eigene Frau rufe ihn während der Dreharbeiten ständig an, beschwert er sich. Ein anderer schlägt dem Regisseur vor, seine verwaiste Villa gelegentlich selbst zu nutzen und somit die entfallende Steuer zu sparen – gegen eine Kommission, versteht sich.
Es fällt auf, dass es die islamistischen Hardliner sind, die in Tamadons Landhaus schnell die Spielregeln bestimmen: Frauen nehmen an der Debatte zwische dem Regisseur und den Klerikern gar nicht erst teil. Man sieht sie nur gelegentlich beim Kochen oder wenn sie auf die kleinen Kinder aufpassen. Doch darauf lässt sich der Filmemacher ein, weil ihm die Diskussion wichtig erscheint.
"Es war schon ein großer Erfolg, Personen, die ganz anders denken, mit mir, also jemandem, den sie als Feind betrachten, in einem Haus vor einer Kamera zu versammeln", sagte Tamadon dem Deutschlandradio. Er hänge die Latte daher "sehr niedrig" und könne mit sehr wenig zufrieden sein, denn für diese Iraner sei das "schon viel".
Schlagabtausch mit den Mullahs
Fundamentalisten gibt es im Iran zuhauf, und dennoch brauchte Tamadon drei Jahre, um vier von ihnen zur Diskussion vor der Kamera zu bewegen. Also reinigt er die Heizkörper, legt die Teppiche auf dem Boden aus, setzt sich den vier Islamisten gegenüber und erklärt, seine ideale Gesellschaft sei nicht religiös, sondern säkular. Das heiße, dass öffentliche Orte für verschiedenste Lebensformen neutral sein sollten.
Die Gäste, allen voran der Gelehrte Ali, lehnen diese Vorstellungen jedoch amüsiert ab und werfen "Herrn Säkular" vor, er sei auch religiös, nur seine Religion hieße Säkularismus und diese wolle er diktatorisch durchsetzen.
Ali ist immer wieder rhetorisch überlegen: "Wenn eine Frau sich in der Öffentlichkeit unverschleiert bewegen könne, warum dürfe sie dann nicht gleich nackt erscheinen?" fragte er provokativ. Man müsse die Gesellschaft schützen – vor dem Fremdgehen und vor Scheidungen. Denn Männer seien ja angeblich schwach und von Testosteron getrieben. Und im Westen, Gott behüte, wollen die Frauen wie Barbie-Puppen aussehen und daher keine Kinder mehr gebären. Oft ist der Regisseur sprachlos, das Gespräch stockt und der überzeugte Atheist Mehran Tamadon schließt sich sogar dem Gebet an. "Bald haben wir bekehrt", scherzen daraufhin die Islamisten.
Schlagabtausch unerwünscht
Tamadon wollte keinen Schlagabtausch, die iranischen Zuschauer auf der Berlinale aber schon, sagte er. "Sie erwarten, dass ich in den Ring steige, um mit ihnen zu boxen" – und siege. Aber boxen wollte er nicht, denn das Gespräch sei ihm das Wichtigste.
Nicht immer. Auf der Berlinale zögerte der Regisseur tagelang, einer Interviewanfrage nachzukommen. Zuerst sei die Planung noch unklar; dann hieß es, der Reporter müsse zuerst den Film sehen; dann hieß es, Filmkritiker bekämen Vorrang; dann wiederum sei der Dolmetscher nicht frei, obgleich Tamadon sehr gut Englisch spricht, wie sich bei einem kurzen Gespräch mit ihm auf der Berlinale zeigte. Dann hieß es, Tamadon möchte nur über seinen Film sprechen. Schließlich lehnte er auch ein solches Gespräch ab und argumentierte, er wolle nicht riskieren, in ein politisches Gespräch zu geraten.
Nicht ohne Grund: Die iranischen Behörden behinderten die Arbeit des Regisseurs, verweigerten dem Regisseur die Ausreise aus dem Iran und konfiszierten seinen Pass. Erst nach einem Monat durfte Tamadon den Iran verlassen, zurückkehren darf er jedoch seitdem nicht mehr. Die Filmaufnahmen wurden sicherlich herausgeschmuggelt. Seine Angst vor einem offenen Gespräch ist daher nur allzu verständlich, wenn auch für den Zuschauer, der mehr über den Film und den Regisseur erfahren möchte, gewiss enttäuschend.
Igal Avidan
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de