Straflosigkeit oder Verurteilung der Täter?

Die marokkanische Versöhnungskommission hat ihren Abschlussbericht über die Menschenrechtsverletzungen zwischen 1956 und 1999 vorgelegt. Der König ordnete daraufhin die Umsetzung der Empfehlungen der Kommission an. Wie reagierte die marokkanische Öffentlichkeit darauf? Darüber diskutieren Salah El Ouadie, Abdelhamid Amine und Said Essoulami.

Die Kommission für Gerechtigkeit und Versöhnung in Marokko hat ihre Arbeit beendet und einen Abschlussbericht über die Menschenrechtsverletzungen zwischen 1956 und 1999, die so genannten "bleiernen Jahre", vorgelegt. Der marokkanische König ordnete daraufhin in einer Fernsehansprache an die Nation die Umsetzung der Empfehlungen der Kommission an. Außerdem rief er dazu auf, eine neue Seite in der Geschichte des Landes aufzuschlagen und sprach den Opfern sein Beileid aus. Eine öffentliche Entschuldigung sprach er jedoch nicht aus.

Der marokkanische König Mohammed VI; Foto: Larissa Bender
Muss sich der marokkanische König Mohammed VI persönlich für die Menschenrechtsverletzungen entschuldigen?

​​Wie hat die marokkanische Öffentlichkeit auf die Rede des Königs und die bisher nicht erfolgte Entschuldigung reagiert? Darüber sprach Ahmad Hissou von der arabischen Redaktion der Deutschen Welle mit Salah El Ouadie, Vorstandsmitglied der Kommission Gerechtigkeit und Versöhnung, Abdelhamid Amine, Vorsitzender der Marokkanischen Vereinigung für Menschenrechte und Said Essoulami, Direktor des Zentrums für Medienfreiheit in Mittelost und Nordafrika.

Herr Salah El Ouadie, wie beurteilen Sie von der Kommission für Gerechtigkeit und Versöhnung die Forderungen einiger marokkanischer Menschenrechtsorganisationen, der König müsse sich deutlich und öffentlich bei den Opfern und ihren Familien entschuldigen?

Salah El Ouadie; Foto: www.ier.ma
Salah El Ouadie, Vorstandsmitglied der Kommission Gerechtigkeit und Versöhnung

​​Salah El Ouadie: Zuerst einmal möchte ich klarstellen, dass ich Mitglied der ehemaligen Kommission für Gerechtigkeit und Versöhnung bin, die jetzt, das heißt nach der Rede des Königs am 6. des laufenden Monats, keine gesetzliche Grundlage mehr hat. Alles, was mit den Ergebnissen ihrer Arbeit zusammenhängt, wurde an den Beratenden Rat für Menschenrechte übertragen, dem es nun obliegt, die Empfehlungen umzusetzen (...).

Was nun die Entschuldigung betrifft, so wurde in den Empfehlungen der Kommission erwähnt, dass der marokkanische Staat sich durch den Premierminister vor dem Parlament bei den Opfern der Gewaltanwendungen entschuldigen müsse. Wir von der Kommission glaubten, als wir diese Empfehlungen formulierten, dass die Entschuldigung auf staatlicher Ebene erfolgen müsse. Wir können hier auch auf die historische Rede des Königs verweisen, die er vor einigen Tagen gehalten hat. Darin wird die Verantwortung des Staates klar anerkannt. Das ist bisher nicht genügend beachtet worden, denn wenn der Staat die Verantwortung für das Geschehene trägt und wenn der König selbst das schöne Wort der Vergebung ausspricht, so hat das Dimensionen mit Blick auf die Zukunft, aufbauend auf der Anerkennung der Verantwortung des Staates.

Herr Abdelhamid Amine, warum schadet es, wenn sich der Premierminister oder die Regierung entschuldigt? Vielleicht stärkt das ja auch die konstitutionelle Monarchie in Marokko, in dem Sinne, dass die Regierung dem Volk verantwortlich ist. Das haben Sie doch immer gefordert in der Marokkanischen Vereinigung für Menschenrechte.

Abdelhamid Amine: Wir sind nicht gegen eine Entschuldigung des Premierministers im Namen des Staates, vorausgesetzt, dass vorher die Verfassung dahingehend geändert wird, dass die Regierung alle exekutiven Befugnisse erhält.

Abdelhamid Amine; Foto: www.maroc-hebdo.press.ma
Abdelhamid Amine, Vorsitzender der Marokkanischen Vereinigung für Menschenrechte

​​Die Kritik besteht darin, dass die Regierung nur einen kleinen Teil der exekutiven Befugnisse hat und dass sie normalerweise nicht über die ungeheuren Menschenrechtsverletzungen in unserem Land informiert ist. Die marokkanische Regierung ist sehr häufig, ich sage nicht, 'der letzte, der etwas erfährt', aber sie verfügt über die gleichen Informationen wie wir von den Menschenrechtsorganisationen.

Ist es nicht gerade die Regierung, die diese Menschenrechtsverletzungen begeht, ihre Sicherheitsapparate?

Abdelhamid Amine: Es gibt Leute, die sagen, dass hinter diesen Taten bestimmte Apparate stehen. Aber die Regierung ist verantwortlich für die Taten, und zwar durch das Innen- und das Justizministerium, denn letzteres hat die schrecklichen Menschenrechtsverletzungen in bestimmten Zeiten durch die Justiz vertuscht.

Ich möchte also erstens zum Thema als Ganzes zurückkehren, denn die Frage der Entschuldigung ist nur ein Teil des Problems für uns, denn vom Staat wird gefordert, sich zu entschuldigen, weil er für die Menschenrechtsverletzungen Verantwortung trägt.

Gemäß Verfassung ist der König der höchste Repräsentant des Staates und im Folgenden derjenige, der sich im Namen des Staates entschuldigen muss und nicht der Premierminister, der nur die Regierung repräsentiert. Die Regierung in Marokko ist gemäß der derzeit geltenden Verfassung nicht verantwortlich für den ausführenden Apparat als Ganzes.

Wir von der Marokkanischen Vereinigung für Menschenrechte wollen das Thema der Menschenrechtsverletzungen in unserem Land nicht auf die Frage der Entschuldigung verkürzen. Selbst wenn sich der König offiziell und öffentlich vor dem Parlament oder vor dem Volk in einer offiziellen Rede entschuldigen würde, würde dies keine endgültige Lösung für das Problem darstellen.

Wir meinen, dass eine demokratische Lösung für das Problem der Menschenrechtsverletzungen aus vier Grundsäulen besteht:

Erstens: die volle Wahrheit, das heißt, die volle Aufklärung aller Menschenrechtsverletzungen.

Zweitens: die Klärung der Verantwortungen, zu denen auch die Verantwortung des Staates gehört. Diese dürfen nicht durch die Behauptung, andere Seiten seien auch für die Taten verantwortlich sind, verwischt werden.

Drittens: Die Verantwortung der Institutionen. Die Verantwortung jeder einzelnen Institution muss geklärt wird. Das Königshaus, die Armee, die Polizei, die unterschiedlichen Sicherheitsapparate, das Innenministerium, das Justizministerium, die Justiz ... Diese Verantwortungen müssen genau darlegt werden, ebenso die individuellen Verantwortungen für die Taten. Das Motto für eine demokratische Lösung des Problems der Menschenrechtsverletzungen heißt Wahrheit und Gerechtigkeit und Rechenschaftsforderung, damit sich das nicht wiederholt.

Herr Said Essoulami, Sie haben gehört, was die beiden gesagt haben. Beginnen wir mit der Frage der Entschuldigung. Es gibt zwei Meinungen. Die erste besagt, dass sich die Regierung durch ihren Ministerpräsidenten entschuldigen müsse; die zweite fordert, dass sich der König persönlich entschuldigt, weil er der höchste Repräsentant des Staates sei. Wo liegt der Unterschied?

Said Essoulami; Foto: www.maroc-hebdo.press.ma
Said Essoulami, Direktor des Zentrums für Medienfreiheit in Mittelost und Nordafrika

​​Said Essoulami: Es gibt einen großen Unterschied: Dass sich der oberste Staatschef, das heißt, der König, entschuldigt, ist eine Sache, dass sich der Regierungschef entschuldigt, ist etwas anderes. Im Fall Marokkos hat der oberste Repräsentant der Regierung, wie Herr Abdelhamid Amine gesagt hat, gemäß Verfassung keine umfassenden Vollmachten, wie man es von demokratischen Gesellschaften oder demokratischen Verfassungen kennt. Der König hat viele Vollmachten, er ist Staatsoberhaupt.

Für mich besteht das Problem nicht in der Entschuldigung. Wenn der König diese Kommission ins Leben ruft und den Bericht entgegennimmt und sofort eine Rede hält, in der er die Überwindung dieser Phase fordert, so ist das sehr bedeutsam. Ich sage nicht, es ist eine Entschuldigung. Es ist ein öffentliches Eingeständnis von Seiten des Staates für seine Verantwortung bei den Menschenrechtsverletzungen.

Ist das nicht ausreichend?

Said Essoulami: Für mich ist es ausreichend, weil wir sonst immer weiterdiskutieren, wer sich entschuldigen soll. Der Premierminister oder der König? Dadurch verlieren wir die Möglichkeit, die eigentlichen Probleme zu diskutieren, nämlich die Vorschläge der Kommission: die notwendigen Reformen, die durchgeführt werden müssen, damit wir diese Probleme überwinden und Marokko nicht in seine Vergangenheit zurückfällt. Das ist für mich das Wichtige.

Es gibt zwei Prinzipien: die Versöhnung und die Entschuldigung. Dann kommt das dritte Prinzip: die Rechenschaftsforderung. Verkraftet die marokkanische Gesellschaft in ihrer jetzigen Situation und Zusammensetzung diese Öffentlichkeit und diese Rechenschaftsforderung der Verantwortlichen über die Menschenrechtsverletzungen und die Enthüllung ihrer Identitäten?

Said Essoulami: Ich glaube nicht, dass Marokko das verkraften kann, denn es hat keine radikale Veränderung des politischen Systems gegeben. Das ist eine Eigenart Marokkos: Die Rechenschaftsforderung der Vergangenheit geschieht in einem System, das sich nicht verändert hat. Bekanntlich haben solche Kommissionen für Wahrheit und Gerechtigkeit und Rechenschaftsforderungen usw. historisch gesehen in Gesellschaften gewirkt, die sich verändert haben. Ihre Systeme haben sich verändert, der Staatspräsident, der Regierungspräsident usw. Das deutlichste Beispiel dafür sind einige Staaten in Lateinamerika und in Osteuropa sowie Südafrika.

Aber in Marokko ist das System unverändert. Es gibt noch eine Monarchie, und viele für die Menschenrechtsverletzungen verantwortliche Personen sind immer noch in ihren Ämtern. Es wird gefordert, dass es Gespräche gibt zwischen Verantwortlichen und Opfern, zum Beispiel im Fernsehen. Dort kann dann eine Entschuldigung bei diesen Opfern ausgesprochen werden.

Das würde bedeuten, dass die Identitäten der Verantwortlichen für die Menschenrechtsverletzungen aufgedeckt werden?

Said Essoulami: Nein, nicht aufgedeckt. Ich meine, dass sie sich freiwillig bereit erklären und die Opfer treffen und sich bei ihnen entschuldigen.

Auf eine andere Sache hat Herr Driss Benzekri, der Vorsitzende der Kommission, hingewiesen, als er sagte, dass die Opfer oder ihre Familien gegen die Verantwortlichen der Menschenrechtsverletzungen vor der marokkanischen Justiz Klage einreichen können. Ich habe heute in der Zeitung von einer Frau gelesen, deren Mann unter der Folter gestorben ist; ihr Sohn hat gegen den Verantwortlichen für die Folter und den Tod seines Vaters Klage erhoben. Das Ergebnis ist, dass die Familie, also Mutter und Sohn, nun von Unbekannten telefonisch bedroht werden.

Was bedeutet das? Das bedeutet, dass einige Leute damit beginnen, Angst und Schrecken unter den Opfern und ihren Familien zu verbreiten, um sie daran zu hindern, sich an die Justiz zu wenden.

Es gibt noch eine andere Überlegung, die diskutiert wird. Dass man von den Verantwortlichen für die Menschenrechtsverletzungen, die noch immer öffentliche Ämter bekleiden, z.B. bei der Polizei, der Sicherheit oder dem Militär, fordert, dass sie ihren Rücktritt einreichen. Oder dass man sie von ihren Posten entlässt.

Aber dass der Staat diese Personen vor Gericht stellt, es sind ja nicht Hunderte, sondern Tausende, das weckt die Befürchtung, dass es zu Instabilität kommt. Diese Verantwortlichen haben immer noch großen Einfluss in den Staatsapparaten und in der Gesellschaft. Marokko ist noch nicht bereit, in eine Phase der Konfrontation einzutreten, wir würden alles verlieren, was wir im letzten Jahrzehnt erreicht haben.

Ihre Kommission heißt "Kommission für Gerechtigkeit und Versöhnung". Wie kann man versöhnen und den Opfern Gerechtigkeit zukommen lassen, ohne Entschuldigung und ohne die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen? Was denken Sie von der Kommission vom Prinzip der Rechenschaftsforderung, insbesondere, da Sie in Ihrem Bericht die Verantwortlichen für die Menschenrechtsverletzungen nicht benannt haben?

Salah El Ouadie: Zugegebenermaßen kann man nichts wirklich beurteilen, ohne den historischen Kontext zu beachten. Davon ausgehend behaupte ich, dass solche Kommissionen dann ins Leben gerufen werden, wenn stillschweigend anerkannt wird, dass die bekannten staatlichen Mechanismen, die die Gerechtigkeit für die Opfer gewährleisten sollen, historisch außer Kraft gesetzt sind.

Diese Taten sind von einem solchen Ausmaß, dass es unmöglich ist, eine strafrechtliche Lösung zu finden. Wenn man mit solchen Fällen zu tun hat, ist die Hauptsache, Mechanismen zu finden für eine behelfsmäßige Gerechtigkeit und keine Gerechtigkeit im strafrechtlichen Sinn.

Die marokkanische Gesellschaft in ihrer jetzigen Verfassung verkraftet also keine ernsthafte und deutliche Rechenschaftsforderung der Verantwortlichen für die Menschenrechtsverletzungen und die Aufdeckung ihrer Identitäten. Warum bestehen Sie von der Vereinigung für Menschenrechte dann auf dem Prinzip der Rechenschaftsforderung?

Abdelhamid Amine: Erstens bin ich nicht sicher, dass die marokkanische Gesellschaft das nicht verkraftet. Das muss man prüfen. Ich glaube, man flüchtet sich in politische Argumente, um diesen Standpunkt zu rechtfertigen. Ich möchte nicht in eine politische Diskussion eintreten, weil ich Vorsitzender einer Menschenrechtsvereinigung bin, und ich gehe von dem Rechtsprinzip aus, das besagt, dass es bei jedem Verbrechen oder jeder Menschenrechtsverletzung eine Verurteilung oder eine Strafe gibt, nach dem Prinzip, dass man der Strafe nicht entkommt.

Ich bin sehr glücklich, dass die Kommission für Gerechtigkeit und Versöhnung, die früher der Meinung war, dass eine Verurteilung Ausdruck von Rache und Bosheit und Zwietracht sei, dass diese Kommission heute in ihren Empfehlungen eine nationale Strategie vorschlägt für ein 'Der Strafe nicht entkommen', dass dieses Prinzip also noch einmal überdacht wird.

Ausgehend von diesem Prinzip und ausgehend von der Realität, glauben wir, dass es ohne Bestrafung zu einer Wiederholung des Geschehenen kommt. Beweis dafür sind die Menschenrechtsverletzungen, die wir in letzter Zeit in Marokko erleben, besonders im Bereich der Terrorismusbekämpfung. Wir haben es wieder mit Entführungen, Folter und ungerechtfertigten Verurteilungen und grausamen Urteilen zu tun, genau aus dem Grund, weil wir den Geist der Vergangenheit nicht losgeworden sind.

Wir haben uns nicht gelöst von dem Prinzip der "Straflosigkeit", wie es in der Zeit zwischen 1956 und 1999, in den "bleiernen Jahre", der Fall war. Für uns ist am wichtigsten, dass man der Strafe nicht entkommt. Und wie Herr Essoulami gesagt hat, es muss mindestens administrative Maßnahmen geben.

Warum belässt der Staat Personen, die für die Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind, an der Spitze von Institutionen, wie der Sicherheitsdienste oder der Polizei? Warum wurden sie nicht mindestens von ihren Ämtern entlassen?

Zweitens, was die Rechenschaftsforderung betrifft, so haben wir als Marokkanische Vereinigung für Menschenrechte gefordert, dass der Staat eine Anzahl von Verantwortlichen zur Rechenschaft zieht. Wir haben eine Liste mit 45 Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen vorgelegt und den Staat aufgefordert, sie zumindest zu verhören, um zu erfahren, ob sie für diese Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind oder nicht.

Sie (der Staat) sagten: "Wir sind nicht dagegen, dass die Menschen zur Rechenschaft gezogen werden. Also soll jeder, der jemanden vor Gericht anklagen will, das tun." Das haben wirklich einige getan, aber sie wurden nicht angehört.

Es gibt also eine systematische Politik der Straflosigkeit, sei es von Seiten des Staates oder der Justiz. Wir von der Marokkanischen Vereinigung für Menschenrechte bestehen darauf, dass es kein Entkommen vor der Strafe gibt, dass es zumindest administrative Maßnahmen gibt. Solange wir Straflosigkeit haben, werden sich die Menschenrechtsverletzungen wiederholen. (...)

Die Empfehlungen der Kommission umfassen auch Empfehlungen für die Zukunft. Wenn die marokkanische Gesellschaft derzeit die Aufdeckung der Identitäten der Verantwortlichen für die Menschenrechtsverletzungen in der Vergangenheit nicht verkraftet, wie kann man dann die Zukunft garantieren? Die Kommission spricht über verschiedene Dinge, u.a. über die Priorität internationalen Rechts vor dem nationalen. Wie beurteilen Sie angesichts der Empfehlungen der Kommission die Zukunft?

Said Essoulami: Ich komme noch einmal auf die Straflosigkeit zurück. Wenn die Kommission den Vorrang von internationalem vor nationalem Recht fordert, so gibt es auch ein internationales Recht zum Thema Straflosigkeit. Die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen erließ im Jahr 2003 einen Beschluss über die Bestrafung von Verantwortlichen von Menschenrechtsverletzungen und ihren Mittätern. Vor Gericht natürlich, und jeder Staat, der Mitglied dieser Kommission war, hat diesen Beschluss mitgetragen, auch Marokko. Aber das ist bei uns nicht umgesetzt worden.

Herr Abdelhamid Amine sprach über jetzt stattfindende Menschenrechtsverletzungen, das heißt, nachdem Sie Ihre Arbeit abgeschlossen haben. Und Sie sprechen über Straflosigkeit. Wie sagen Sie dazu?

Salah El Ouadie: Erstens spreche ich über meine Arbeit und über meine Verantwortung innerhalb der Kommission für Gerechtigkeit und Versöhnung. Wir von der Kommission haben eine deutliche Empfehlung ausgesprochen, nämlich die verfassungsmäßige Anerkennung der Priorität des internationalen Rechts, was die Menschenrechte betrifft, vor dem nationalen Recht. Mir ist persönlich wichtig, wie die Empfehlungen zukünftige umgesetzt werden. Das ist ganz grundlegend. Und ich möchte sagen, dass das Wichtige nicht die Rechenschaftsforderung in einem bestimmten Fall ist gegenüber einem bestimmten Beschluss. Sondern die Rechenschaftsforderung gegenüber dem ganzen Verlauf und der ganzen Dynamik.

Ich glaube, die Tatsache, dass die Kommission diese Empfehlungen gegeben hat und dass der marokkanische König sogleich die Veröffentlichung des Abschlussberichts anordnet, dass dann ein königliches Dekret ergeht über die Umsetzung dieser Empfehlungen, und alle Institutionen innerhalb des Staates angesprochen werden, mit der Kommission zusammenzuarbeiten, das ist eine deutliche Antwort auf jede mögliche Zurückhaltung in dieser Frage.

Aber wenn es jetzt weiterhin Folter gibt ...

Salah El Ouadie: Erlauben Sie mir, weiter über die Straflosigkeit zu sprechen. Es ist von Anfang an klar gewesen, dass die Kommission in ihrem Umgang mit den Menschenrechtsverletzungen nicht wie ein Gericht agiert. Sie ist kein Gericht, das heißt, ihr Ziel ist, diejenigen vorzuladen, die beschuldigt und möglicherweise verwickelt sind, um sie zu befragen. Entscheidend ist, dass wir erstens das Ausmaß und die Art und den Kontext der Menschenrechtsverletzungen beweisen.

Das ist essentiell, und wer den im Internet veröffentlichten Bericht gelesen hat, der bald auch auf Papier erscheint, kann die Fakten, die die Kommission in diesem Bereicht ohne zu zögern oder zu vertuschen aufgeführt hat, nachlesen. Es gibt keinen einzigen Menschenrechtler, der sagt, er sei gegen das Prinzip der Strafe, die jeder erhalten muss, der in Menschenrechtsverletzungen verwickelt ist.

Das ist nicht das Thema. Die Frage ist erstens zu verstehen, warum der Staat, unter bestimmten Bedingungen und in einer bestimmten historischen Phase – und übrigens, noch nie hat sich eine solche Kommission mit einer so langen Periode wie in Marokko beschäftigt -, von einem Bewahrer der Rechte zu einem Gegner dieser Rechte wird. Und wie? Und welches sind die Unzulänglichkeiten innerhalb der Institutionen des Staates? Wie kann man in Zukunft damit umgehen?

Deshalb ist das Prinzip, dass es kein Entkommen von der Strafe geben darf, kein Motto, das in der Luft hängt, sondern es wird angewendet, es ist Programm auf verschiedenen Ebenen, damit in der Zukunft tatsächlich gewährleitstet ist, dass jeder bestraft wird, der sich dazu verführen ließ, das Leben und die Freiheit und die Rechte Anderer anzutasten.

Herr Abdelhamid Amine, wie beurteilen Sie den Teil der Empfehlungen, die die Zukunft betreffen?

Abdelhamid Amine: Die von der Kommission für Gerechtigkeit und Versöhnung vorgelegten Empfehlungen sind positive und deutliche Empfehlungen, denen wir zustimmen. Aber sie genügen nicht für die Anerkennung eines Rechtsstaats. Ein Rechtsstaat ist ein grundsätzlicher Garant für eine Nichtwiederholung der Menschenrechtsverletzungen in der Zukunft. Die Empfehlungen sind positiv, und wir von der Marokkanischen Menschenrechtsvereinigung werden uns für die Umsetzung dieser Empfehlungen einsetzen und dafür jede Form von Druck ausüben.

Gleichzeitig aber halten wir sie für nicht ausreichend. Deshalb halten wir fest am Prinzip der Verurteilung und Bestrafung. Und wir halten fest an den Empfehlungen des nationalen Dialogs über die Menschenrechtsverletzungen, die im Jahr 2001 abgegeben wurden, denn diese sind äußerst wichtig und immer noch aktuell und umsetzbar.

Diskussionsleitung: Ahmad Hissou

Übersetzung aus dem Arabischen von Larissa Bender

© DEUTSCHE WELLE/DW-WORLD.DE 2006

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