Unterdrückt im Namen des Islam?
Zahlreiche Meinungsumfragen belegen das schlechte Image des Islam in Deutschland. Nach einer repräsentativen Untersuchung des Instituts Allensbach im Auftrag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung aus dem Jahr 2012 attestiert eine Mehrheit der Befragten dem Islam nicht nur Gewaltbereitschaft, Fanatismus und Intoleranz.
Mehr als Zweidrittel, 83 Prozent, halten den Islam für frauenfeindlich, die Religion des Propheten sei von der Benachteiligung von Frauen geprägt. Das ist der höchste Wert in der Befragung. In einer vergleichbaren Allensbach-Umfrage aus dem Jahr 2006 lag der Wert sogar noch höher.
Für Birgit Rommelspacher, emeritierte Professorin für Psychologie mit dem Schwerpunkt Interkulturalität und Geschlechterstudien an der Berliner Alice Salomon Hochschule, kommen solche Umfragewerte nur zustande, weil Defizite und Widersprüche der eigenen gesellschaftlichen Entwicklung ausgeblendet und auf Muslime projiziert werden.
Das zwiespältige Erbe der Moderne
Deshalb kommt es zu dem Gegensatzpaar "emanzipierte westliche" und "unterdrückte muslimische Frau". Rommelspacher sieht zwei verschiedene gängige Argumentationsweisen in der Debatte: Entweder sei Emanzipation grundsätzlich nur jenseits aller religiösen Bekenntnisse möglich oder aber eine Befreiung der Frau funktioniere ausschließlich im jüdisch-christlich geprägten Abendland mit seiner Aufklärung, aber nicht im Islam. Nach beiden Sichtweisen können muslimische Frauen prinzipiell nicht emanzipiert sein.
Für Rommelspacher blenden beide Ansätze wichtige Fakten aus, die nicht ins Weltbild passen. Sie übersehen, dass das Erbe der Moderne in Europa durchaus zwiespältig ist. Denn auch die Aufklärung hat Frauen zunächst ausgegrenzt.
Frauen wurden erst im Zeitalter der Industrialisierung aus dem ökonomischen Bereich in die Privatsphäre abgedrängt. Heute müssen sie sich mühsam den ökonomischen Bereich wieder erobern, deshalb dreht sich ein Großteil der aktuellen Debatten um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Auch die Betrachtungsweise aller Religionen als ausschließlich patriarchal und anti-modern sei nicht zutreffend. Dieser Ansatz übersieht nicht nur die spirituelle Egalität, die in allen Religionen herrscht: Mann und Frau sind vor dem Schöpfer gleich. Er berücksichtigt ebenfalls nicht, dass in Europa christliche und jüdische Frauen einen wichtigen Anteil an der Frauenbewegung und ihren Errungenschaften haben. Genauso streiten auch islamische Frauen für ihre Rechte, ihre Bemühungen werden allerdings kaum wahrgenommen.
Brüche und Widersprüche
Also bilanziert Rommelspacher: "Weder ist die Moderne per se emanzipatorisch, noch ist die Religion immer nur repressiv." Bei beiden handelt es sich um ambivalente Phänomene mit sowohl emanzipatorischen als auch repressiven Elementen. Diese Brüche und Widersprüche werden allerdings nur beim Islam gesehen, nicht in der säkular-christlichen Gesellschaft selbst.
Für Rommelspacher ist die Bewertung des Islam als pauschal frauenfeindlich eine Folge von gesellschaftlicher Konkurrenz. Sie diene dazu, "eine soziale und kulturelle Hierarchie zwischen einheimischen Frauen und den eingewanderten Musliminnen herzustellen", zum Beispiel auf dem Arbeitsmarkt.
Auf jeden Fall bleiben die Bewertungen nicht ohne Folgen. Luise Amina Becker, islamische Religionspädagogin am Zentrum für Islamische Frauenforschung (ZIF) in Köln, spricht davon, dass Muslime beiderlei Geschlechts "an den latent vorhandenen Demütigungserfahrungen und an ihrer Ohnmacht leiden, der negativen Mehrheitsmeinung nichts entgegen setzen zu können – selbst wenn sie keine eigenen gravierenden Diskriminierungen erfahren."
Innere Distanz zur deutschen Gesellschaft
Becker, die selbst Kopftuch trägt, sieht infolgedessen bei der Generation der ab 40-Jährigen eine stärkere Hinwendung zu eigenen Traditionen. Da tauchen Fragen auf, wie: "Ist das wirklich mein Zuhause? Was habe ich denn eigentlich verlassen?" Zwar denken die wenigsten konkret an eine Rückkehr in die Ursprungsländer, aber eine innere Distanz zur deutschen Gesellschaft bleibt.
Für die Generation der jungen Erwachsenen sei die Situation anders, so Becker. Sie sehen grundsätzlich Deutschland als ihre Heimat an, suchen aber verstärkt Halt im Islam. In ihren Kursen erlebe sie ein wachsendes Interesse an islamischer Theologie, viel mehr Studenten kommen als noch vor zehn Jahren.
Becker bildet junge Männer und Frauen zu Religionspädagogen aus, die dann in den Moscheegemeinden arbeiten sollen. War die Elterngeneration noch ganz selbstverständlich in den Traditionen verwurzelt, ohne sie zu hinterfragen und oftmals auch ohne sie überhaupt wirklich zu kennen, hat in der jungen Generation eine intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Tradition eingesetzt. Gerade zum Beispiel die Stellung der Frau im Koran werde unter muslimischen Migranten heftig diskutiert, meint die Religionspädagogin.
Dabei belegen Studien wie die Untersuchung "Viele Welten leben. Lebenslagen von Mädchen und jungen Frauen mit Migrationshintergrund" von Ursula Boos-Nünning und Yasemin Karakasoğlu aus dem Jahr 2005, dass sich junge Frauen mit und ohne Migrationshintergrund in ihrer Bildungs- und Berufsorientierung kaum unterscheiden.
Es wurden Frauen im Alter von 15 bis 21 Jahren aus verschiedenen Migrantenmilieus befragt. Danach findet in Migrantenfamilien gerade bei Mädchen und jungen Frauen in beachtlichem Umfang ein Bildungsanstieg statt. 36 Prozent der Väter und Mütter mit einem niedrigen Bildungsabschluss haben Töchter mit einem hohen Bildungsniveau.
Mentalitätenwandel in Migrantenfamilien
Die große Mehrheit dieser jungen Frauen will ihr Leben finanziell mit einem Beruf absichern und gleichzeitig nicht auf Familie verzichten, sieht aber Probleme darin, beide Lebensbereiche auszubalancieren.
Die jungen Migrantinnen drängen also "bildungshungrig" an die Universitäten, was dem in den Meinungsumfragen transportierten Bild von der "unterdrückten muslimischen Frau" völlig widerspricht.
Auch in vielen Migrantenfamilien findet ein Wandel in den Mentalitäten statt, so dass klassische Konfliktfelder wie zum Beispiel die Teilnahme am Sportunterricht für Mädchen längst entschärft werden konnten. Gleichzeitig haben in den letzten Jahren staatliche und nichtstaatliche Einrichtungen wie Kindergärten, Schulen und Krankenhäuser begonnen, sich für muslimische Migranten zu öffnen.
Wenn es Probleme gibt, wie zum Beispiel mit Gewalt in den Familien oder mit auffälligen Jugendlichen in der Schule, dann wäre es für die Religionspädagogin Luise Amina Becker wichtig, bei der Lösung muslimische Fachkräfte mit einzubinden.
"Wir brauchen unbedingt mehr muslimische Sozialpädagogen in den Jugendämtern", sagt Religionspädagogin Becker, "und eine kulturelle Sensibilität für die Lebenssituation muslimischer Familien." Nur dann können auf Dauer vorhandene Probleme behandelt werden, ohne zu einer weiteren Polarisierung der Gesellschaft zu führen.
Claudia Mende
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de