Versöhnung? Fehlanzeige!

Der Wahlkampf hat die Türkei wie selten zuvor polarisiert. Doch statt auf Ausgleich und Versöhnung zu setzen, kündigte Erdoğan sogleich weitere Referenden über die Todesstrafe und den EU-Beitrittsprozess an. Ein riskantes Spiel, meint Ulrich von Schwerin.

Von Ulrich von Schwerin

Am Tag nach seinem Sieg hat sich Recep Tayyip Erdoğan in Istanbul auf eine kleine Pilgerreise begeben: zum Mausoleum von Eyüp und dem Grab von Yavuz Sultan Selim - auf Deutsch der "Grimmige" genannt. Vor allem aber erwies der türkische Präsident seinem verstorbenem Ziehvater Necmettin Erbakan und den früheren Ministerpräsidenten Turgut Özal und Adnan Menderes die Ehre. Erst anschließend kehrte Erdoğan unter dem Jubel seiner Anhänger als Triumphator nach Ankara zurück.

Mit dem Übergang zum Präsidialsystem, so hatte es Erdoğan versprochen, werde das Zeitalter einer "neuen Türkei" anbrechen. Sein Besuch an den Gräbern von Menderes, Özal und Erbakan kann als Verneigung vor drei Staatsführern verstanden werden, die sich selbst für eine Reform der säkularen Staatsordnung eingesetzt hatten, die Mustafa Kemal Atatürk der Türkei hinterlassen hatte.

Sein Mentor Erbakan wurde dafür 1997 vom Militär zum Rücktritt gezwungen, Menderes wurde deshalb 1961 hingerichtet, und Özal verstarb vor 24 Jahren unter ungeklärten Umständen. Erdoğan dagegen ist es nicht nur gelungen, einen Putschversuch des Militärs zu überstehen, sondern auch ein maßgeschneidertes Präsidialsystem gegen den Widerstand der alten Eliten durchzusetzen.

Erdoğans Pyrrhussieg und die gespaltene Nation

Mit der Annahme des Präsidialsystems nach dem Volksentscheid vom 16. April ist der 63-Jährige am Ziel seiner Wünsche. Allerdings hat der von Erdoğan mit großer Härte geführte Wahlkampf die Gesellschaft polarisiert. Und obwohl der türkische Präsident über Wochen für die Reform warb, fiel das Ergebnis mit 51,4 Prozent nicht nur sehr knapp aus, sondern es bleibt auch der Verdacht der Manipulation.

Ein Blick auf die Wahlkarte zeigt die Türkei klar gespalten: Während das konservative Kernland Anatoliens und die Schwarzmeerküste überwiegend für das Präsidialsystem stimmten, dominierte in den Regionen an der Ägäisküste sowie im kurdischen Südosten das Nein. Auch die fünf größten Städte Istanbul, Ankara, Izmir, Antalya und Adana stimmten mit "Hayir" (Nein).

Jubelnde Anhänger Erdoğans nach dem Volksentscheid; Foto: picture-alliance/AP
Führerkult und Glaube an den starken Mann: "Doch so sehr Erdoğan verehrt wird, so sehr spaltet er auch. Nicht nur in Europa, auch bei vielen Türken ist Erdoğan regelrecht verhasst. Umso wichtiger schiene nun eine Versöhnung der Gesellschaft, zumal der Wahlkampf, in dem Erdoğan die Nein-Wähler als Unterstützer des Terrorismus diffamiert und seine EU-Partner als Nazis beschimpft hat, die Gräben noch weiter vertieft hat", schreibt Ulrich von Schwerin.

Hier findet sich die alte Spaltung zwischen den sogenannten "schwarzen Türken" und "weißen Türken" wieder – jener westlich orientierten, säkularen, städtischen Mittel- und Oberschicht, die über Jahrzehnte hinweg Politik, Kultur und Wirtschaft beherrscht hatte. Erst Erdoğan war es gelungen, ihre Vormacht zu brechen und den konservativen Muslimen Anerkennung zu verschaffen und ihnen einen Platz in der Öffentlichkeit einzuräumen.

Für seine Anhänger bleibt Erdoğan der Junge aus dem Istanbuler Arbeiterviertel Kasımpaşa, obwohl er längst in einem prachtvollen Palast residiert. Sie sehen den Politiker, der sorgfältig das Image eines "Mann des Volkes" kultiviert, noch immer als einen der ihren. Er ist der Beweis und das Versprechen, dass man es mit genug Willen und Ehrgeiz vom Simit-Gebäck-Verkäufer zum Präsidenten schaffen kann.

Zugleich erfüllt er ein Bedürfnis nach einem starken Führer, das keine türkische Besonderheit ist, aber hier besonders ausgeprägt scheint. Diese Sehnsucht spiegelt sich im Personenkult um den "Reis" (Führer) wider, der nur in der Idolisierung Atatürks eine Entsprechung findet – und dort wohl auch seine Wurzeln hat, wie überhaupt insgesamt der Erdoğanismus starke Züge des Kemalismus trägt.

Erdoğan – der verehrte und verhasste "Reis"

Doch so sehr Erdoğan verehrt wird, so sehr spaltet er auch. Nicht nur in Europa, auch bei vielen Türken ist Erdoğan regelrecht verhasst. Umso wichtiger schiene nun eine Versöhnung der Gesellschaft, zumal der Wahlkampf, in dem Erdoğan die Nein-Wähler als Unterstützer des Terrorismus diffamiert und seine EU-Partner als Nazis beschimpft hat, die Gräben noch weiter vertieft hat.

Einige Kommentatoren äußerten vor dem Referendum die Hoffnung, dass Erdoğan seinen Gegnern die Hand reichen würde, sobald er seinen Willen bekommen hat. Andere sahen sogar Anzeichen, dass er wieder auf die Kurden zugehen könnte, nachdem sich sein Bündnis mit den MHP-Nationalisten nicht ausgezahlt hatte, da ein großer Teil der Parteibasis die Zustimmung zum Präsidialsystem verweigerte.

Doch Erdoğans erste Äußerungen nach dem Referendum deuten nicht darauf hin, dass er auf Versöhnung setzt – im Gegenteil: Kaum war sein Sieg bestätigt, da drang er auf die Wiedereinführung der Todesstrafe. Sollte er keine Mehrheit dafür im Parlament bekommen, könnte er ein zweites Referendum hierzu ansetzen, kündigte er bei einem nächtlichen Auftritt in Istanbul vor seinen jubelnden Anhängern an.

Nach Erdoğans Demokratieverständnis eröffnet die Mehrheit der Stimmen dem Gewinner das Recht, nach Belieben zu regieren – und sei die Mehrheit noch so knapp. Respekt vor dem Willen der Minderheit kennt er nicht. Koalitionen sind ihm ebenso zuwider wie die Suche nach Konsens und Kompromissen.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan; Foto: Reuters
Auf Konfrontationskurs mit der EU: Nach seinem Sieg bei dem Volksentscheid am vergangenen Sonntag hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Wiedereinführung der Todesstrafe erneut auf die Agenda gesetzt. In seiner Siegesansprache vor Anhängern in Istanbul kündigte er an, notfalls ein Referendum darüber anzusetzen. Erdoğan hatte die Todesstrafe einst selbst abgeschafft, ihre Wiedereinführung würde den Abbruch der EU-Beitrittsgespräche bedeuten.

Verhältnis zu Europa auf der Kippe

Nach den Verheerungen der letzten Kampagne möchte man sich nicht vorstellen, was eine Debatte über die Wiedereinführung des Galgens in der Türkei anrichten würde. Die EU hat zudem keinen Zweifel gelassen, dass die Rückkehr der Todesstrafe ein klarer Verstoß gegen europäische Werte wäre und das sofortige Ende des EU-Beitrittsprozesses bedeuten würde.

Die Türkei ist wirtschaftlich in hohem Maße von Europa abhängig, die ihr wichtigster Handelspartner ist. Auch erhält sie im Rahmen des Beitrittsprozesses Milliardenhilfen aus Brüssel. Ganze Landesteile leben vom Tourismus. Eine Abkehr von Europa kann sich die Türkei, die zuletzt nur knapp einer Wirtschaftskrise entgangen ist, wohl kaum leisten.

Doch Erdoğan scheint das egal zu sein: Als er nach seiner Rückkehr nach Ankara auf den Stufen des Präsidentenpalastes vor eine fahnenschwenkende Menge trat, stellte er auch noch ein Referendum über den EU-Beitrittsprozess in Aussicht. Zwar hatte er bereits vor dem Volksentscheid angekündigt, das Verhältnis zu Europa zur Debatte zu stellen, doch schien dies nur ein Wahlkampfmanöver.

Nun scheint es aber, dass Erdoğan gar nicht mehr aus dem Wahlkampfmodus herausfindet. Unzweifelhaft versteht Erdoğan es wie kein Zweiter in der Türkei, die Massen zu mobilisieren. Wenn er mit dem Mikrofon über die Bühne schreitet und mit einigen Worten die Menge zum Toben bringt, um sie sodann mit einer Geste zum Schweigen zu bringen, ist er ganz in seinem Element.

Feindbilder, Polemik und Polarisierung haben sich für ihn im Wahlkampf immer wieder als nützlich erwiesen – zur Mobilisierung der Wähler, zuletzt im Streit über die Auftritte türkischer Minister in Europa. Dass die einigen tausend Wählerstimmen den Schaden kaum wert waren, den der Konflikt hinterlassen hat, scheint er ebenso wenig zu sehen, wie dass langfristig auch für ihn keine Wahl zu gewinnen ist, wenn die europäischen Investoren und Touristen fortbleiben.

Ulrich von Schwerin

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