Demokratie statt Autokratie?
Erwartungsgemäß hatte Recep Tayyip Erdogan am 10. August die Präsidentschaftswahlen in der Türkei gewonnen – und zwar mit 52 Prozent der Stimmen. Bei einer – für türkische Verhältnisse – mageren Wahlbeteiligung von 74 Prozent stimmten etwa 21 der rund 55 Millionen Wahlberechtigten für Erdogan.
Das ist dennoch ein beeindruckendes Resultat für den Vorsitzenden der Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP), wenn man bedenkt, dass er (bzw. seine Familie) und seine Partei mit massiven Korruptionsvorwürfen konfrontiert sind. Nichtsdestotrotz hatte Erdogan die Dominanz seiner seit 2002 andauernden Ein-Parteien-Regierung dazu genutzt, über staatliche und AKP-nahe Medien Wahlkampf zu machen und seinen Opponenten wenig Raum zur Entfaltung gelassen. Das wurde von internationalen Wahlbeobachtern zu Recht kritisiert.
Dies alles erklärt jedoch noch nicht den erneuten Erfolg der AKP, die seit 2002 drei Parlamentswahlen, zwei Präsidentschaftswahlen, drei Kommunalwahlen und ein Verfassungsreferendum gewonnen hat. Wie also lässt sich der Wahlsieg Erdogans erklären? Und was hat die Türkei von seinem neuen Staatspräsidenten zu erwarten?
Vier Faktoren sind für den erneuten Wahlsieg Erdogans ausschlaggebend: Erstens, der wirtschaftliche und soziale Aufschwung unter der AKP-Regierung, zweitens, die Einleitung demokratischer Reformen, drittens, die politische Kultur und viertens, die schwache Opposition in der Türkei.
Wirtschaftliche und soziale Reformen als Erfolgsrezept
Erdogan und seine AKP haben es geschafft, der Türkei den längsten Wirtschaftsboom ihrer Geschichte zu bescheren. Die Auslandsinvestitionen haben sich seit 2002 auf über 400 Milliarden US-Dollar vervielfacht – das ist deutlich mehr, als in den 60 Jahren zuvor. Zudem hat sich das Pro-Kopf-Einkommen auf etwa 12.000 US-Dollar verdreifacht.
Zudem wurden etliche Infrastrukturmaßnahmen mittlerweile realisiert: so der Bau von Schnellstraßen und Brücken, der Zugang zu Strom und fließendem Wasser. Zudem wurden Arbeitslosigkeit und Inflation gesenkt sowie eine gesetzliche Krankenversicherung eingeführt – Maßnahmen, von denen vor allem auch bildungsferne und einkommensschwache Personengruppen profitieren.
Der zweite Grund liegt in den demokratischen Reformen, die insbesondere in der ersten (und teilweise zweiten) Legislaturperiode realisiert wurden. Woran Erdogans pro-westliche und kemalistische Amtsvorgänger gescheitert waren, schaffte der AKP-Chef, nämlich den Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen (seit 2005) sowie die Aussöhnung mit der kurdischen Minderheit, deren eigene Identität endlich anerkannt und deren kulturelle Rechte ausgeweitet wurden.
Zudem wurden dem Militär diverse politische Entscheidungsbefugnisse gestrichen, die Todesstrafe abgeschafft und das Recht, mit Kopftuch studieren oder im öffentlichen Dienst arbeiten zu dürfen, gestärkt.
Wenn man sich diese beiden Gründe, also den wirtschaftlich-sozialen Aufschwung und die eingeleiteten demokratischen Reformen, vor Augen hält, dann wird verständlich, warum die AKP-Politik in Teilen der islamischen Welt als "Modell" angesehen wird und warum diese Partei nach wie vor so beliebt in der Türkei ist – dort überwiegt bei vielen Menschen das Gefühl der Dankbarkeit gegenüber der AKP, vor allem gegenüber Erdogan.
Fehlende demokratische Norm
Dass man dann das eine oder andere Auge zudrückt, was die diversen wirtschaftlichen und politischen Verfehlungen der AKP angeht – etwa die bereits erwähnten Korruptionsvorwürfe oder den autoritären Umgang Erdogans mit den Gezi-Park-Protestlern sowie die Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit –, liegt auch in den beiden anderen Faktoren begründet, nämlich die politische Kultur des Landes und seine schwache politische Opposition.
Die politische Kultur der Türkei wird vor allem durch den Nationalismus (bzw. das Türkentum) beeinflusst, den sunnitischen Mehrheitsislam, den ausgeprägten Zentralismus-Gedanken und durch den Wunsch nach starken politischen Führungspersönlichkeiten. Begriffe wie Liberalismus, Rechtsstaatlichkeit, Interreligiosität oder die Fähigkeit zur Selbstkritik sind weitgehend Fremdbegriffe.
Aus dieser Gemengelage heraus wird Demokratie und Demokratisierung vorrangig als Instrument zur Durchsetzung eigener Präferenzen und weniger als Norm begriffen. Politische Angriffe werden mit Misstrauen, Schubladendenken und Revanchismus entgegnet – aus Letzterem wird quasi eine Legitimation für eigenes Handeln abgeleitet.
Wenn die AKP und Erdogan nun mit Korruptionsvorwürfen konfrontiert sind, hört man oft, dass entweder die Anschuldigungen eine "Kampagne" der Opposition darstellten oder dass andere Parteien und Politiker doch nicht weniger korrupt seien. Dasselbe gilt für den Vorwurf der Klientelpolitik und Vetternwirtschaft der AKP-Regierung, welche durch ihre langjährige Ein-Parteien-Dominanz das Monopol auf die Vergabe von öffentlichen Aufträgen innehat und Verflechtungen mit diversen staatlichen und privaten Medienanstalten förderte.
Eine Opposition im politischen Abseits
Hinzu kommt, dass es die Opposition seit über zehn Jahren nicht verstanden hat, der AKP personell wie inhaltlich Paroli zu bieten. Gerade auf inhaltlicher Ebene hätte es viele Abgrenzungsmerkmale zur AKP geben können, wie etwa das weitere Forcieren des EU-Beitrittsprozesses, die Stärkung der Rechte der Christen und Aleviten, die Ausweitung der Meinungs- und Pressefreiheit, die immer größer werdende Schere zwischen Arm und Reich, Energie- und Umweltfragen oder Korrekturen in der türkischen Außenpolitik, die seit den Umbrüchen des "Arabischen Frühlings" in Turbulenzen geraten ist und massive Glaubwürdigkeitsverluste erfahren hat.
Was hat die Türkei von einem Präsidenten Erdogan zu erwarten? Erdogan versucht, seinen Wahlsieg als Aufbruch in eine neue Zukunft darzustellen. Gemäß Verfassung ist der Staatspräsident jedoch "nur" der höchste Repräsentant des (kemalistischen) Staates mit wenigen Exekutiv- und Ernennungsfunktionen. Seine Aufgaben sind in etwa mit dem des deutschen Bundespräsidenten vergleichbar.
Trotz der Bedenken einiger Verfassungsexperten glaubt Erdogan, dass ihn die Direktwahl zum Staatspräsidenten durch das Volk dazu legitimiert hat, dem Amt neue Befugnisse zuteil werden zu lassen. Doch so einfach geht es nicht, dass sich ein Präsident selber Vollmachten erteilen kann – hierzu ist eine Verfassungsänderung notwendig und für diese braucht Erdogan eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament.
Drohende "Putinisierung" der Türkei?
Prinzipiell aber ist ein Präsidialsystem nicht a priori etwas Schlechtes, wenn es dem Beispiel Frankreichs folgt. Problematisch wird es jedoch, wenn es dem Beispiel Russlands folgt – dann könnte sich die "Putinisierung" der Türkei weiter manifestieren. Eine Mehrheit zur Einführung eines Präsidialsystems gibt es derzeit nicht, dass könnte sich jedoch mit den Parlamentswahlen 2015 ändern.
Gleichwohl sollten die Interessenten einer solchen gravierenden Veränderung des politischen Systems nicht vergessen, dass Erdogan oder die AKP nicht ewig regieren werden. Irgendwann wird wieder ein kemalistischer Politiker Präsident sein und dieser würde dann vom neuen System in seinem Sinne profitieren.
Es bleibt abzuwarten wie Erdogan ohne die Verfassungsänderung mit dem neuen Amt umgehen wird. Seine Ankündigung, über 1.000 neue Berater und Mitarbeiter einstellen zu wollen, deutet darauf hin, dass er ein regierender Staatspräsident sein wird. Pro forma gilt es dann nur noch, einen Premier – der ebenso wie in Deutschland Abgeordneter sein muss und eine parlamentarische Mehrheit benötigt – zu ernennen, der als "Erfüllungsgehilfe" fungieren wird.
Erdogans "verlängerter Arm"
Die Funktion des "verlängerten Arms" Erdogans wird der frühere Außenminister Ahmet Davutoglu als neuer Ministerpräsident einnehmen. Dass Davutoglu eine eigenständige Agenda verfolgen wird, gilt als unwahrscheinlich, da er als treuer Weggefährte Erdogans gilt.
Wenn man sich vor Augen hält, wie unerbittlich Erdogan in den letzten drei Jahren mit Kritikern in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft verfahren ist, kann man nur hoffen, dass er als höchster Repräsentant des Staates künftig einen konzilianteren Umgang wählt. Seine Rhetorik nach seinem historischen Wahlsieg klang immerhin versöhnlich.
Erdogan hatte zudem angedeutet, sich als regierender Präsident wieder für eine stärkere Demokratisierung des Landes einsetzen zu wollen. Inwieweit er jedoch seinem eigenen politischen Anspruch gerecht wird, bleibt abzuwarten.
Cemal Karakas
© Qantara.de 2014
Dr. Cemal Karakas ist Politikwissenschaftler und arbeitet für die Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK). Zu seinen Themenfeldern zählen die Türkei, der politische Islam, Fragen der europäischen Integration sowie externe Demokratieförderung in Theorie und Praxis.