Das Endspiel steht noch bevor
Recep Tayyip Erdogan ist neuer Staatspräsident der Türkei. Der starke Mann, der seit über einem Jahrzehnt als Ministerpräsident die politischen Geschicke des Landes bestimmte, ist in direkter Wahl mit fast 52 Prozent der Stimmen zum Staatspräsidenten gewählt worden.
Nach der Verfassung ist es ein Amt mit weitgehend repräsentativen Aufgaben. Doch Erdogan, dem jedes Mittel recht ist, um autokratisch zu regieren, hat längst angekündigt, dass er sich hierum nicht schert. Wie in einem Präsidialsystem wolle er regieren. Politische Konkurrenz duldet er nicht. Ein Vollstreckungsbeamter wird wohl nächster Ministerpräsident der Türkei.
Erdogans Politik der vergangenen Jahre hat die türkische Gesellschaft zunehmend polarisiert. Die säkularen städtischen Mittelschichten wurden nicht nur von der politischen Partizipation ausgeschlossen, sondern zu Feinden und Vaterlandsverrätern erklärt.
Erdogan pflegte als Ministerpräsident Chefredakteure wüst zu beschimpfen, falls ihm ein Zeitungsartikel oder eine Fernsehsendung politisch nicht in den Kram passte. "Niederträchtige Frau" wütete er jüngst gegen eine Journalistin, die es gewagt hatte, einen kritischen Artikel gegen die Regierung zu verfassen. Gleichgeschaltete Medien und ein gewaltiger Propagandaapparat, der auch bei den Präsidentschaftswahlen zum Einsatz kam, sind zweifelsohne Erdogans Verdienst.
Verkommene politische Kultur
Auch ist der neu gewählte Präsident politisch verantwortlich für die Toten des Gezi-Parks, als Jugendliche gegen den kulturellen Totalitarismus aufbegehrten. Die Verkommenheit der politischen Kultur mag man daran ermessen, dass Erdogan auf einer öffentlichen Kundgebung die Mutter eines zu Tode gekommenen 15-jährigen Demonstranten ausbuhen lassen ließ. Rassismus und Antisemitismus gehören zu seinem Repertoire, wenn es von Nutzen erscheint, auf Stimmenfang zu gehen.
Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, parlamentarische Kontrolle sind ihm ein Dorn im Auge. Als das Verfassungsgericht die Sperrung von Twitter und Youtube für verfassungswidrig erklärte, giftete er gegen die Richter. Er ließ Gesetze verabschieden, die eine willfährige Justiz garantieren sollen. Erst vor wenigen Monaten wurden die Befugnisse des Geheimdienstes so erweitert, wie wir sie in der Geschichte wohl nur von Diktaturen kennen.
Es ist der boomende Kapitalismus des vergangenen Jahrzehntes in der Türkei, der zum Aufschwung des politischen Islams beitrug und Erdogan den Kredit sicherte, um seine politische Macht auszubauen. Doch der Boom stößt an seine Grenzen. Schon heute ist es im Wesentlichen die fragile Bauindustrie, die ausgestattet mit fetten staatlichen Aufträgen und billigen Staatskrediten zum wirtschaftlichen Wachstum beiträgt.
Eine Ökonomie im Interesse Erdogans
Doch die Finanzierung wackelt bereits. Die Wirtschaftstechnokraten um Erdogan, die einen ausgeglichenen Haushalt im Auge hatten und das Wachstum förderten, werden gerade ersetzt von notorischen Ja-Sagern, die die Ökonomie den politischen Interessen Erdogans unterordnen wollen.
Jüngstes Beispiel ist die Bank Asya, die aus politischen Gründen in den Bankrott getrieben wird, weil die Eigentümer dem mit Erdogan verfeindeten Prediger Gülen nahe stehen. Die Bankenaufsicht mag aufschreien. Erdogan ist es egal. Von unabhängigen Institutionen, ob Zentralbank oder Bankenaufsicht, hält er ohnehin nicht viel.
Die Wahl Erdogans ist nicht politischer Rationalität geschuldet. Erstmals in der Geschichte der Türkei befeuern Anhänger einen Politiker mit Slogans, die dem Fußball entlehnt sind. Der "Macher", der Tore schießt wird, befeuert. Doch aus dem gefeierten Torschützen kann schnell der Buhmann werden, wenn die Tore ausbleiben und die eigene Mannschaft eine Niederlage kassiert. Denn das Endspiel steht noch bevor.
Erdogan muss versuchen ein Präsidialsystem, das weitgehend der parlamentarischen Kontrolle entzogen ist, zu etablieren. Viel Zeit bleibt ihm dafür nicht. Schon im nächsten Jahr stehen Parlamentswahlen an. Ob seine Partei eine parlamentarische Mehrheit erlangen wird, steht noch in den Sternen.
Fehlende Mehrheiten
Eine Mehrheit für eine Verfassungsänderung, die er sich erhofft, wird es wohl nicht geben. Erdogan wird es nicht leicht haben. Denn für fast die Hälfte der türkischen Bürger ist er nicht nur ein Politiker, dessen politischen Kurs sie ablehnen und den sie nicht wählen. Zudem wird es schwierig werden, die eigene Partei als Staatspräsident "aus der Ferne" zu dirigieren.
Eine neue Türkei hatte Erdogan versprochen. Auch Mustafa Kemal Atatürk tat dies bereits vor fast einem Jahrhundert: einen säkularen, republikanischen Nationalstaat. Repression und staatliche Gewalt waren Mittel von Modernisierung und Veränderung: von oben verordnet, vom Militär bewacht und notdürftig parlamentarisch verhüllt. Drohte das Modell aus den Fugen zu geraten, folgten Militärputsche in der Geschichte des Landes.
Erdogans propagierte neue Türkei ist eine islamische Türkei. Die Macht des Militärs hat Erdogan längst gebrochen. Repression und staatliche Gewalt sind nunmehr Sache seines Polizeistaates. Die Islamisierung wird von oben verordnet und kleine Sicherheitsmänner wachen darüber, dass sich junge Leute in U-Bahn-Stationen nicht küssen.
Populismus und Wahlen liefern die Kulisse des Umstrukturierungsplans der Gesellschaft. Doch die Türkei ist nicht die Türkei vor 100 Jahren. Die Chancen, daß das Projekt Erdogan scheitert, stehen nicht schlecht.
Ömer Erzeren
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de