Nachgeholte Trauer 

In Nathan Englanders Roman "kaddish.com“ wird ein Angehöriger einer jüdischen Familie von Schuld und Reue verfolgt, weil er die Regeln des Kaddisch (Totengebet) für seinen Vater missachtet. Ein witzig-melancholischer Roman, auch für Leser, die keine religiösen Bindungen kennen.  Von Volker Kaminski

Von Volker Kaminski

Für Larry, einen Werbefachmann aus Brooklyn, sind die religiösen Vorschriften, die seine Schwester streng befolgt, "blöde Regeln“. Normalerweise haben die Geschwister wenig Kontakt, die Schwester wohnt weit entfernt von New York in Memphis in einer jüdischen Gemeinde, während Larry ein lockeres Partyleben in der Metropole führt und keinen Gedanken an Religion verschwendet. Nun ist er zur Beerdigung seines Vaters angereist und fühlt sich von den Gästen angestarrt. Er hat ein schlechtes Gewissen, da er nicht gläubig ist. Was ihn jedoch beruhigt, ist das gute Verhältnis, das zwischen ihm und seinem Vater bestanden hat.



Die Schwierigkeit, der er sich gegenübersieht und auf die ihn seine Schwester hinweist, ist seine Verpflichtung zum Totengebet. Als einziger Sohn muss er nach der Thora fast ein ganzes Jahr lang achtmal am Tag das Kaddisch sprechen. Diese Verpflichtung, in die Synagoge zu gehen und zu beten, darf nicht verletzt werden, wie ihm seine Schwester, ein Rabbiner und ein Bestatter einschärfen, die während der Trauertage im Haus sind, andernfalls drohen dem Gestorbenen Höllenqualen auf seinem Weg zu Gott. 

Absurditäten und groteske Konsequenzen

Obwohl Larry sich als Jude fühlt und ein guter Sohn sein will, weist er den Auftrag als unerfüllbar zurück. Im Streit beschimpft er die Jenseitsvorstellungen der anderen als Humbug. Die Schwester bricht in Tränen aus, sie fürchtet um das Seelenheil ihres Vaters, doch zum Glück findet sich ein Kompromiss. Der Rabbiner erklärt, dass Larry einen "Stellvertreter“ ernennen kann, der an seiner Stelle die Gebete spricht. Der Rabbiner unterstreicht, dies sei "tausendprozentig koscher“, Larry müsse nur dafür sorgen, dass der andere verantwortungsbewusst ist und kein Gebet auslässt. 

Cover von Nathan Englanders Roman "kaddish.com" erschienen bei btb; Quelle: Verlag
"'Kaddish.com’ ist ein Roman voll ungewöhnlicher Gedanken und seelischer Leidenszustände, er beschreibt den langen Weg eines Suchenden und erinnert stellenweise an Kafka“, schreibt Volker Kaminski. "Er lässt seinen Helden jedoch nicht ins Leere laufen, sondern belohnt ihn für seine Konsequenz und Ehrlichkeit sich selbst gegenüber. Ein ungewöhnliches Lese-Abenteuer, das zugleich verblüfft und nachdenklich stimmt.“

Die Geschichte, die Englander erzählt, handelt von den Absurditäten und grotesken Konsequenzen, die sich ergeben können, wenn Menschen versuchen, alte Riten und Gebräuche streng nach dem Buchstaben zu erfüllen. Larry führt das Leben eines modernen Zeitgenossen, er hat sich von der Religion seiner Vorfahren längst emanzipiert und will sich nichts vorschreiben lassen.

So nutzt er in seiner Verlegenheit die Hilfe des Internets und findet eine Website, die eine Lösung für seine Probleme zu bieten scheint. Auf "kaddish.com“ wird ihm ein günstiges Angebot gemacht: Gegen eine einmalige Gebühr übernimmt ein gläubiger Rabbinerschüler in Jerusalem die Aufgabe und liest das Totengebet für Larrys Vater nach allen Vorschriften.  

Trotz dieser Ausgangslage ist Englanders Roman keine Satire auf übersteigerte Religiosität. Nach etwa fünfzig Seiten vollführt der Roman einen erstaunlichen Schwenk: Wir begegnen unvermittelt einem verwandelten Larry, der den Namen Shuli (von Schaul) trägt, mit seiner Familie und gläubigen Frau in einem Haus in Brooklyn lebt, an einer Rabbinerschule die Thora lehrt und von wachsenden Schuldgefühlen geplagt wird, die seine zehn Jahre zurückliegende Abtretung der Trauerverpflichtungen an jene Website betreffen.  

Plötzliche Bekehrung

Als Leser fragen wir uns verwundert, woher Larrys Bekehrung zum Glauben kommt und was in seinem Leben passiert ist. Statt seine Wandlung zu beschreiben, folgt der Text jedoch Shulis fieberhafter Suche im Internet nach der genauen Adresse von kaddish.com. Shuli scheint ein gewissenhafter Vater und einfühlsamer Thora-Lehrer zu sein, der glücklich mit Familie und Kindern sein könnte, den seine ehemalige Ungläubigkeit jedoch so sehr schmerzt, dass er seine ganze Existenz aufs Spiel setzt. 

Mit Hilfe eines jungen Schülers und Google Earth gelingt es Shuli, den genauen Standort der Internetseite zu ermitteln. Inzwischen ist die Schulaufsicht auf seine (in der jüdischen Glaubensschule) unerlaubten Aktivitäten aufmerksam geworden und man untersagt ihm den Kontakt zu seinem Lieblingsschüler.



Auch seine Frau versucht, Shuli zur Vernunft zu bringen, doch obwohl er nicht genug Geld hat, beschließt er nach Jerusalem zu reisen, um dort jenen "Stellvertreter“ persönlich ausfindig zu machen und von ihm sein Trauerrecht als Sohn zurückzubekommen. 

So merkwürdig der Plot des Romans klingen mag, so atemberaubend ist der Erzählstil Englanders (den Werner Löcher-Lawrence in der Übersetzung exzellent bewahrt). Englander schreibt komplex, analytisch scharf, dabei gedanklich verschlungen und intellektuell fordernd: "Vom Himmel auf einen Ort hinabzuschauen ist eine Sache. In Echtzeit tatsächlich dort zu sein, eins zu eins auf sein menschliches Maß reduziert, eine ganz andere.“ So beschreibt Englander etwa den Unterschied zwischen dem Blick mit Google Earth auf Jerusalem und dem Gefühl, tatsächlich vor Ort zu sein. 

"Kaddish.com“ ist ein Roman voll ungewöhnlicher Gedanken und seelischer Leidenszustände, er beschreibt den langen Weg eines Suchenden und erinnert stellenweise an Kafka. Er lässt seinen Helden jedoch nicht ins Leere laufen, sondern belohnt ihn für seine Konsequenz und Ehrlichkeit sich selbst gegenüber. Ein ungewöhnliches Lese-Abenteuer, das zugleich verblüfft und nachdenklich stimmt. 

Volker Kaminski

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