Sind Araber blind für die Geschichte?

Eine jetzt veröffentlichte Studie des Berliner "Zentrum Moderner Orient" wirft ein differenziertes Licht auf das Verhältnis zwischen Arabern und dem Nationalsozialismus. Lennart Lehmann hat die Studie gelesen.

Hitler bei einer Radioansprache. Illustration Raimo Bergt
Hitler bei einer Radioansprache

​​Wenn im Zusammenhang mit der arabischen Welt das Thema Nationalsozialismus zur Sprache kommt, dann fällt schnell der Name des Muftis von Jerusalem, Amin al-Husseini. Er bemühte sich um die Unterstützung Hitlers im Kampf gegen die britische Kolonialmacht in Palästina.

Oder es wird auf den irakischen Politiker Raschid al-Gailani verwiesen, der 1941 einen Aufstand gegen die britische Mandatsmacht probte, wobei ihn deutsche und italienische Flieger unterstützten.

Die Araber, so eine häufig geäußerte Meinung, hätten sich auf die Seite der Nazis geschlagen, weil sie gegen die Kolonialisten aus England und Frankreich waren, wie auch gegen die erstarkende zionistische Bewegung. Diese fatale Sympathie für den NS-Staat wirke bis heute nach - Araber seien blind für die Geschichte.

Vergessene historische Fakten

Dass die Gleichung nicht ganz so einfach ist, kann man jetzt in einer Sammelstudie des "Zentrum Moderner Orient" (ZMO) nachlesen. Lange war der Nationalsozialismus kein zentrales Thema für Islamwissenschaftler. Es war der Karriere nicht förderlich.

Historiker wiederum, die sich mit diesem Thema auseinandergesetzt haben, konnten meist kein Arabisch. Diplomatische Akten aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs blieben zudem lange verschlossen. Die Biographien der arabischen Zeitgenossen und Akteure, die mehr Licht in diese Angelegenheit hätten bringen können, wurden erst in den letzten Jahren veröffentlicht.

Die Autoren der ZMO-Studie kommen aus Deutschland, Israel und Marokko und sind anerkannte Profis. Sie haben arabische Quellen ausgewertet und dabei vergessene historische Fakten zu Tage gefördert.

Der Islamwissenschaftler Werner Ende warnt, "dass die Dinge immer komplizierter sind, als man denkt. Das Ergebnis ist ein Korrektiv. Wer Agitprop will, wird an diesem Buch nicht viel Freude haben. "

Der Nationalismus in den arabischen Ländern

Die Aufsätze sind teilweise von brillanter Qualität und zudem spannend zu lesen. Sie beleuchten bewusst das Wirken individueller, manchmal bizarrer Persönlichkeiten: Geschichte ist kein anonymer Prozess.

Israel Gershoni weist anhand ägyptischer Publikationen der dreißiger und vierziger Jahre nach, dass neben der Hitlerbegeisterung, die es zweifelsohne am Nil gab, nicht wenige Menschen das NS-Regime ablehnten.

In Syrien wiederum übernahmen nationalistische Parteigründer faschistische Symbole und Strukturen, umgingen aber den rassistischen Teil der Nazi-Ideologie.

Die Entwicklung im Irak, recherchiert von Peter Wien, liest sich geradezu als Tragödie: Ein Ringen um die Zukunft zwischen Generationen, Traditionalisten und Modernisten, das in die Arme der Nazis führte und den Irak bis heute ungünstig beeinflusst.

Araber als Kollaborateure und Opfer

Werner Ende konstatiert: "Die modernistischen, progressiven Muslime sind auf den Nationalsozialismus hereingefallen, während Gruppen wie die Muslimbrüder die Nazis mit größter Zurückhaltung betrachtet haben. "

In dieser Bandbreite ist das Buch etwas Neues. Ende weist auf ein Problem hin: Das Thema ist auch im Nahen Osten sehr emotional besetzt und Interessierten schwer zugänglich. "Es gibt immer noch Familien, die vergessen machen wollen, dass Teile von ihnen mit den Nazis kollaboriert haben. "

Für Zündstoff sorgen auch die Forschungen des im letzten Jahr verstorbenen Orientalisten Gerhardt Höpp. Er ist einer Vielzahl arabischer Einzelschicksale von Opfern nachgegangen, die im Nazideutschland verfolgt, gedemütigt und in Konzentrationslagern ermordet wurden.

"Deshalb ist nicht auszuschließen", so Ende, "dass das Buch auch immer ein bisschen Beifall von der falschen Seite und Kritik von der anderen finden wird. Das Thema ist ein Minenfeld. "

Studie sollte ins Arabische übersetzt werden

"Die Aufgabe dieses Sammelbandes besteht nicht darin, die Opfergeschichte umzuschreiben", sagt der Historiker René Wildangel. Es soll vielmehr ein Anreiz sein, sich mit der Kolonialgeschichte und mit vergessenen Aspekten zu befassen.

"Diesbezüglich ist in der arabischen Welt nicht viel passiert. " Speziell im Nahen Osten kursiert stattdessen eine Menge pseudowissenschaftlicher Literatur, die aus einer polemisch antijüdischen Perspektive das Hitlerregime glorifiziert.

"Die dortige Bereitschaft, diesen Mist zu lesen, hat viel mit sozialen Gegebenheiten zu tun", vermutet Wildangel. Brisant ist jedoch, wie Götz Nordbruch dokumentiert, dass faschistisch-rassistische Diskurse selbst von intellektuellen Eliten arabischer Länder gepflegt werden. Deshalb wäre es eine wichtige Sache, so Wildangel, das Buch ins Arabische zu übersetzen.

Neben vielen Erklärungen eröffnen sich durch die Lektüre auch neue Fragen: Araber kämpften in der französischen und englischen Armee und gerieten in Gefangenschaft. Was wurde aus ihnen, nachdem sie freikamen? Wie verhält sich die Geschichte Irans zum Nationalsozialismus? Auch aus Palästina fehlen noch viele Quellen. Es ist also ein Buch, dass Lust macht aufs Forschen.

Lennart Lehmann

© Qantara.de 2004

Gerhard Höpp, Peter Wien, René Wildangel
"Blind für die Geschichte? – Arabische Begegnungen mit dem Nationalsozialismus"
Klaus Schwarz Verlag Berlin 2004, 382 S., 26,- Euro

Lesen Sie auch auf Qantara.de:
"Afrikanische Soldaten - Kämpfen für Frankreich" von Goetz Nordbruch