Am Kreuzweg

Ceuta gilt als kolonialer Überrest in Nordafrika – und ist doch schon länger europäisch als Granada. Vom Vorposten im "Heiligen Krieg" wurde die Stadt zum Musterbeispiel für ein tolerantes Miteinander. Heute suchen Flüchtlinge hier Einlass in die Festung Europa. Von Jakob Krais

Von Jakob Krais

Irgendwann nutzten auch die hohen Mauern nichts mehr – die verarmten Fremden, die auf der Suche nach einem besseren Leben unbedingt in die Stadt wollten, überrannten den Ort einfach. Verzweifelt versuchten sie, Dürre, Hunger und Elend in ihrem Land zu entkommen und riskierten dafür Leib und Leben. Im Jahr 1415 eroberten die Portugiesen die Hafenstadt zwischen Mittelmeer und Atlantik, aus dem marokkanischen Sebta wurde Ceuta.

Auf der Alhambra von Granada residierte damals noch ein arabischer Emir, doch seine christlichen Nachbarn begannen schon damit, den Kampf gegen die "Ungläubigen" nach Nordafrika zu tragen. Vor sich her trieben sie dabei Massen an Flüchtlingen: Muslime und Juden aus dem Süden Europas, die nun ihr Glück an den gegenüberliegenden Küsten suchten. Auch Ceuta hatte schon andalusische Flüchtlinge aufgenommen, bevor es selbst vom Krieg eingeholt wurde. In den Jahren nach 1415 verlor der Ort, genau am Eingang des Mittelmeers in die Straße von Gibraltar gelegen, einen Großteil seiner arabischen Einwohner, die es weiter nach Süden zog.

Doch auch die christlichen Eroberer kamen nicht nur als Glaubenskämpfer nach Nordafrika, sondern in erster Linie, um dort ihr Glück zu finden und den wirtschaftlichen Schwierigkeiten in ihrer Heimat zu entgehen. Es waren verarmte Landadlige aus dem trockenen Zentrum der Iberischen Halbinsel, die ihre Monarchen zu immer neuen Beutezügen anstachelten. Die "Reconquista", der "Heilige Krieg" zur Rückeroberung Spaniens und Portugals von den Muslimen, war für die mittellosen Raubritter vor allem eine Einnahmequelle.

Glücksritter und Märtyrer

Trotzdem wäre Ceuta beinahe schon zwölf Jahre nach der Eroberung wieder an Marokko zurückgefallen – und zwar im Rahmen eines portugiesisch-marokkanischen Friedensvertrags. Um das Abkommen zu verbürgen, schickte König Duarte seinen Bruder Dom Fernando an den Sultanshof nach Fes. Der König hatte die Rechnung jedoch ohne seinen Adel gemacht, der auf die Einkünfte aus Nordafrika angewiesen war und den Friedensvertrag platzen ließ. Dom Fernando sah Lissabon nie wieder und musste sich damit trösten, als Märtyrer gefeiert zu werden. Damals ahnte wohl noch niemand, dass mit dem Scheitern des Abkommens die europäische Herrschaft über Ceuta für die nächsten sechs Jahrhunderte festgeschrieben worden war.

Escenas de la Reconquista por las Ordenes Militares. Monasterio de Ucles, Cuenca; Quelle: wikipedia
"Reconquista" als lukrative Einnahmequelle: Die christlichen Eroberer kamen nicht nur als Glaubenskämpfer nach Nordafrika, sondern in erster Linie, um dort ihr Glück zu finden und den wirtschaftlichen Schwierigkeiten in ihrer Heimat zu entgehen.

Dass die iberischen Glücksritter ihre Expansion nach Marokko irgendwann doch nicht mehr weiterverfolgten, lag vor allem an Kolumbus. Nach der "Entdeckung" Amerikas suchten sie ihr neues Leben nun in der Neuen Welt – denn dort lockten die größeren Schätze.

Als Duartes Nachfahren sich mehr als anderthalb Jahrhunderte nach ihrem Einzug in Ceuta doch noch einmal nach Marokko vorwagten, führte das gleich zum Untergang Portugals: Im Jahr 1578 kamen in der "Dreikönigsschlacht" nicht nur der marokkanische Sultan und sein von Lissabon bezahlter Widersacher ums Leben, sondern auch der portugiesische König selbst. Portugal wurde daraufhin erst einmal von Spanien geschluckt – seitdem steht Ceuta unter der Kontrolle Madrids. An die Zugehörigkeit zum Nachbarland erinnert nur noch das Wappen der spanischen Exklave: Es ist bis heute identisch mit dem Portugals.

Convivencia oder Kolonialismus

Von der Speerspitze des christlichen Kampfs gegen die Muslime wurde Ceuta schließlich zum Beispiel für ein tolerantes Miteinander zwischen den verschiedenen Religionen. Heute sind die 85.000 Einwohner je zur Hälfte Christen und Muslime; daneben gibt es jüdische und hinduistische Minderheiten.

Gegenüber dem arabischen Fernsehsender Al-Jazeera betont Bürgermeister Juan Jesús Vivas das respektvolle Zusammenleben der verschiedenen Bevölkerungsgruppen in der Stadt: "Zum islamischen Opferfest werde ich jedes Jahr von meinen muslimischen Freunden eingeladen, schon mein ganzes Leben lang ... und sie besuchen mich dann an Weihnachten. Das ist Ceuta!".

Das Opferfest wurde in Ceuta vom Stadtoberhaupt der christdemokratischen Volkspartei gar zum gesetzlichen Feiertag erklärt. Nicht nur Bürgermeister Vivas betrachtet die Stadt heute als letztes Beispiel der viel beschworenen Convivencia von Christen, Muslimen und Juden, die das maurische Spanien geprägt haben soll.

Karte mit den spanischen Exklaven Ceuta und Mellila; Quelle: DW
Ceuta liegt seit 600 Jahren dort, wo sich die Wege zwischen Europa und Nordafrika kreuzen. Von der christlichen Bastion im "Heiligen Krieg" gegen die Muslime wurde die Stadt zum Einfallstor in ein abgeschottetes Europa.

In Marokko sieht man das naturgemäß anders. Hier gelten Ceuta und die andere Enklave Melilla als Überbleibsel des Kolonialismus. Ab 1912 war der ganze Norden Marokkos spanische Kolonie. Da die beiden Hafenstädte schon lange davor von Madrid aus regiert worden waren, wurden sie 1956 konsequenterweise nicht mit dem Rest Marokkos unabhängig – so die spanische Argumentation. Die Regierung in Rabat hat dagegen immer wieder die Rückgabe Ceutas und Melillas gefordert, inzwischen aber immer halbherziger.

Festung Ceuta

Der acht Kilometer lange Grenzzaun, der Ceuta vom Festland trennt, richtet sich denn auch nicht primär gegen marokkanische Begehrlichkeiten, sondern gegen Flüchtlinge, die das europäische Territorium auf dem afrikanischen Kontinent erreichen wollen. Spätestens seit dem Mobilitätsabkommen mit der EU spielt Marokko hier zunehmend die Rolle des Türstehers: Im Gegenzug zu Visaerleichterungen für die eigenen Bürger verpflichtete sich Rabat 2013 zur verstärkten Kontrolle subsaharischer Migranten, die eigentlich weiter nach Norden wollen, so aber in Marokko festsitzen.

In den zehn Jahren davor waren rund 28.000 Einwanderer illegal in die beiden spanischen Exklaven gelangt. Mittlerweile schaffen es im Vergleich mit anderen südlichen EU-Außenposten in Italien oder Griechenland kaum noch Flüchtlinge über Ceuta, Melilla, die Kanarischen Inseln (oder direkt die 14 km über die Straße von Gibraltar) in den Schengen-Raum: 2014 wurden in Spanien weniger als 6.000 Asylanträge gestellt, in Italien waren es mehr als zehnmal, in Deutschland fast dreißigmal so viele.

Die Abschottung der Festung Europa funktioniert an ihrer südwestlichen Flanke. Erst kürzlich pries die ungarische Botschafterin die spanischen Maßnahmen in Nordafrika als Vorbild für ihr eigenes Land. In Ceuta gehören dazu über sechs Meter hohe Zäune mit Klingendraht oder die so genannten heißen Abschiebungen (oder "Pushbacks"). Dabei schleifen Grenzbeamte Flüchtlinge, die es schon auf spanischen Boden geschafft haben, einfach wieder zurück nach Marokko – laut EU-Kommission ein Verstoß gegen europäisches Recht, nach dem jeder Asylsuchender Anspruch auf ein geregeltes Verfahren hat.

Im Auge des Sturms

Polizisten versuchen Flüchtlinge von dem Zaun in Melilla zu holen; Foto: Reuters
Spanien als Vorreiter beim Zaunbau in Europa: Die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla im nordafrikanischen Marokko sind seit den 1990er Jahren mit meterhohen Zäunen umgeben worden. In Melilla ist das Bauwerk elf Kilometer lang. Anfangs war es nur drei Meter hoch, inzwischen sind es sechs Meter. Es besteht aus zwei großen Zäunen und dazwischen liegenden weiteren Absperrungen, die mit Bewegungsmeldern und Kameras gesichert sind. Dennoch versuchten in den vergangenen Jahren weiter tausende Menschen, die Absperrung zu überwinden.

Das alles heißt freilich nicht, dass es niemand mehr versuchen würde. Anfang Oktober stürmten Migranten wieder einmal – trotz Klingendrahts – die Zäune; immerhin 87 gelangten nach Ceuta. In den Wochen danach starben mehrere Flüchtlinge bei dem Versuch, den Grenzzaum durch das Meer zu umfahren oder zu umschwimmen. Im Sommer kam ein Marokkaner bei dem Versuch ums Leben, sich über Ceuta per Fähre nach Spanien schmuggeln zu lassen. Und im Frühjahr gingen die Bilder eines ivorischen Kindes um die Welt, das in einem Koffer eingepfercht über den Grenzübergang kam.

In Spanien wird momentan wieder über die Abschottungspolitik diskutiert: In ihrem Programm zur Parlamentswahl im Dezember fordern die Sozialisten sowohl den Abbau des Klingendrahts als auch ein Ende der "heißen Abschiebungen" – beides verletze die Menschenrechte der Flüchtlinge. Bürgermeister Vivas, der glühende Verfechter des multikulturellen Zusammenlebens, kritisiert diese Pläne dagegen als "gefährlich" und "unverantwortliche Wahlkampfrhetorik". Das Mitglied der konservativen Regierungspartei erinnert in der spanischen Tageszeitung El País außerdem daran, dass die "nötigen Abschreckungsmaßnahmen" an der Grenze im Jahr 2005 eingeführt wurden – und damit unter einer sozialistisch geführten Regierung.

Ceuta liegt seit 600 Jahren dort, wo sich die Wege zwischen Europa und Nordafrika kreuzen. Von der christlichen Bastion im "Heiligen Krieg" gegen die Muslime wurde die Stadt zum Einfallstor in ein abgeschottetes Europa: Vor sechs Jahrhunderten war es die verarmte christliche Landbevölkerung aus dem Norden, die zusammen mit muslimischen und jüdischen Flüchtlingen nach Süden strömte – heute sind es afrikanische Migranten aus dem Süden, die vor Armut, Elend oder Krieg nach Norden fliehen. Sie kommen aus Mali, aus dem Senegal oder dem Kongo, aber ebenso aus Marokko selbst. Inzwischen nehmen auch immer mehr Syrer den Umweg über den arabischen Westen, um nach Europa zu gelangen. Wie vor 600 Jahren steht Ceuta im Zentrum dieser epochalen Wanderungen. Und versucht dabei, sich, gewissermaßen im Auge des Sturms, sein Klima der Toleranz und des Miteinanders zu bewahren.

Jakob Krais

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