Liebe und Politik am Bosporus
Als sich der alte Journalist in seine Wohnung am Bosporus zurückzieht, um an einer Raki-Tafel über sein Leben nachzudenken und seine Gedanken auf Kassettenrekorder aufzunehmen, verfolgt er keine politische Absicht. Er hat Mühe, sich die Ereignisse seiner Kindheit und Jugend in Erinnerung zu rufen, ist doch das Land längst ein anderes als zu seiner Zeit in den 50ern und frühen 60ern des letzten Jahrhunderts.
Doch die drohende Verwandlung in einen Ein-Mann-Staat, wovon die Türkei gegenwärtig geprägt wird, ist wie ein unheilvoller Unterstrom im Text zu spüren. Zwar versucht der Chronist sich auf seine Lebensgeschichte zu konzentrieren, doch er kann nicht davon absehen, wie sehr ihn die ständige "Angeberei" und "Siebengescheitheit" des Ministerpräsidenten aus der Fassung bringt, dessen "mandelförmigen Schnurrbart (…) wir jeden Tag (…) in unserem Fernseher" haben.
Nachdem seine Mutter bei einem ungeklärten Unfall durch die Dienstwaffe des Vaters gestorben ist, wächst der erst sechsjährige Protagonist mit Großmutter und Vater als Halbwaise in einer kargen Provinzgegend auf, umgeben vom Kasernenleben des Vaters und ohne viel Wärme und Zuneigung von ihm zu erfahren.
Einerseits scheint ihn der früh erfahrene Verlust tief zu prägen und ihm ein unstillbares Verlangen nach Liebe und Nähe einzuimpfen, andererseits schärft die unfreiwillige Isolation seinen Blick für alle Personen seiner Umgebung – angefangen beim Vater, dem glatzköpfigen, egomanischen Mann in Uniform, der meist mit Kumpanen Trinkgelage abhält (bei denen der Sohn schon früh Zeuge ist).
Militärputsch als Schlüsselerlebnis
Schonungslos charakterisiert er den oft "explosive Lachsalven" ausstoßenden Mann, der sein ganzes Leben an der Seite seiner dominanten Mutter verbringt. Dass der Hauptmann am Militärputsch im April 1960 maßgeblich beteiligt ist, wird zum Schlüsselerlebnis für den Sohn. Obwohl er sich zu diesem Zeitpunkt von zu Hause gelöst hat und in Istanbul an einem Eliteinternat sein Abitur macht, zwingen ihn die Umstände sich noch einmal dem Vater zu nähern und in einer Angelegenheit auf Leben und Tod mit ihm zu verhandeln.
Den größten Raum nimmt in dem Roman die acht Jahre dauernde Internatszeit des Ich-Erzählers ein. Immer wieder durchstreift er in Gedanken die dunklen Gänge der "Schule des Sultans", beschreibt die Zwänge und sexuellen Nöte der jungen Schüler, wobei er nicht mit pikant-witzigen Details spart, wenn er einen Blick in den Schlafsaal wirft, wo die Jungs unter ihren Bettdecken allabendlich ihr "Zelt bauen" und einarmig rudern (onanieren).
Die Stimmung ähnelt dem Leben in der Kaserne, es herrschen Drill und Leistungsdruck und die Zöglinge, die nur am Wochenende Ausgang bekommen, versuchen ihre überschüssige Energie durch Sport und raue Turnierspiele abzureagieren. Der Ich-Erzähler fühlt sich wie ein Gefangener, erlebt jedoch gerade in dieser Zeit seine erste Liebesgeschichte und gerät in eine leidenschaftliche Affäre ausgerechnet mit der Mutter seines besten Freundes und Ehefrau eines ranghohen Politikers, der später beim Putsch zusammen mit Menderes gestürzt, verhaftet und zum Tode verurteilt wird.
Gürsel erzählt diese verschlungene Geschichte auf meisterliche Art. Immer wieder schweift er vom Hauptstrom ab, um sich einzelnen Details zu widmen und die Geschehnisse von damals zu hinterfragen. Er macht sich darüber lustig, dass die Leser vermutlich mehr "action" erwarten würden, wozu er erst im 16. Kapitel gegen Ende des Buchs bereit ist.
Tatsächlich beruht die Spannung des Romans nicht so sehr auf seinem Plot und der dramatischen Rettung des zum Tode verurteilten Politikers, als viel mehr in der Plastizität, mit der Gürsel Charaktere und Orte lebendig macht und Episoden schildert wie etwa die Verführung des Schülers durch Cazibe, seine Geliebte.
Zwischen Liebesleid und Langeweile
Obwohl der Ich-Erzähler keineswegs als sympathischer, moralisch integrer Mensch gezeichnet ist, wird einem dennoch sowohl der jüngere als auch der ältere Mann sehr vertraut. Man spürt das Lebensgefühl, das ihn in einer Mischung aus Liebesleid und Langeweile beherrscht, während er jeden Morgen aufs Neue durch die Panoramascheibe seiner Wohnung auf die Silhouette von Istanbul blickt, jener Stadt, die letztlich sein einziger "Freund" und "Kamerad" gewesen sei.
"Ich habe mein Innerstes hervorgekehrt", erklärt der Chronist gegen Ende, er könne nicht anders – wie er eben auch nicht verhindern könne, dass ihm der Ministerpräsident auf die Nerven gehe und er gegen ihn sticheln müsse. "Ich bin ein eigensinniger Mann und kann die Situation nicht ertragen, der Zustand meines Heimatlandes gefällt mir gar nicht."
Sein immer wieder aufflammender Protest trägt mitunter auch komische Züge. So beantwortet er eine neue TV-Verlautbarung des Ministerpräsidenten zur Erhöhung der Alkoholsteuer und seine Aufforderung, statt Wein zu trinken besser Trauben zu essen, mit dem vollen Raki-Glas in der Hand und einem wütenden "Prost!"
Ein wunderbares Buch, ein großartiger Geschichtenerzähler, dessen hintersinnige Verschmitztheit in der deutschen Übersetzung von Barbara Yurtdas bestens getroffen ist.
Volker Kaminski
© Qantara.de 2017
Nedim Gürsel: "Der Sohn des Hauptmanns", Roman, Aus dem Türkischen von Barbara Yurtdas, Dumont Verlag 2017, 318 S., ISBN 978-3-8321-9853-4