Den religiösen Extremismus im Keim ersticken

Der marokkanische König Mohammed VI strukturiert den religiösen Sektor zum zweiten Mal um: Neue tiefgehende Reformen des religiösen Establishments sollen einen moderaten Islam fördern – und den radikalen Islamismus im Keim ersticken. Einzelheiten von Alfred Hackensberger

Der marokkanische König Mohammed VI strukturiert den religiösen Sektor zum zweiten Mal um: Neue Reformen des religiösen Establishments sollen einen moderaten Islam fördern – und den radikalen Islamismus im Keim ersticken. Einzelheiten von Alfred Hackensberger

Fotomontage König Mohammed VI und betende Muslime in Marokko; Foto: dpa
Auf Initiative des Königs soll der religiöse Sektor des Landes grundsätzlich neu strukturiert werden. Betroffen sind davon Imame, Moscheen und auch Marokkaner, die im Ausland leben.

​​Die öffentliche Empörung war groß, als Scheich Mohammed Maghraoui die Heirat mit 9-jährigen Mädchen rechtfertigte. Menschenrechts- und Frauenorganisationen protestierten, in den Medien wurde der 60-jährige Theologe als Befürworter von Vergewaltigung und Kindermissbrauch kritisiert.

Sogar eine Klage vor Gericht hat der Scheich nun zu erwarten. Trotzdem ist sich Mohammed Maghraoui keiner Schuld bewusst. Er habe nur den Islam buchstabengetreu ausgelegt, als er die Verheiratung von 9-jährigen Mädchen in einer "Fatwa" (Lehrmeinung) auf seiner Webseite als "nicht verboten" deklarierte. "Prophet Mohammed hat Aisha geheiratet, als sie sieben und die Ehe mit ihr vollzogen, als sie neun Jahre alt war", rechtfertigte sich Maghraoui.

Er sieht sich als Opfer einer Kampagne des Säkularismus, nachdem die Behörden sein Netzwerk mit 60 Koranschulen kurzerhand schlossen. Dabei dürfte sich der Theologe, der aus Saudi-Arabien finanziert wird, absolut nicht wundern: Zum einen hat er damit zum Verstoß gegen das bestehende Familiengesetz aufgerufen, "das eine Heirat unter 18 Jahren nur in Ausnahmefällen mit richterlicher Genehmigung zulässt", wie Anwalt Toufek Laroussi aus Tanger erklärte.

Außerdem stellt er mit seiner Fatwa die oberste religiöse Autorität infrage, die kein geringerer als König Mohammed VI selbst ist. Er hat den Vorsitz im Obersten Theologenrat, der entsprechend harsch die Heirats-Fatwa "einen Missbrauch von Religion" nannte und den Scheich als "Agitator" bezeichnete.

Weiterbildung für einen toleranten Islam

König Mohammed VI; Foto: AP
Der Islam in Marokko muss seinen toleranten Charakter bewahren, so Mohammed VI, der sich nicht nur als Staatschef, sondern auch als "Herrscher der Gläubigen" und religiöses Oberhaupt des Landes sieht.

​​Um in der Zukunft derartige sektiererische Lehrmeinungen zu vermeiden, kündigte Mohammed VI ein neues Reformpaket an. Der religiöse Sektor soll neu strukturiert werden: Betroffen sind davon Imame, Moscheen und auch Marokkaner, die im Ausland leben.

Statt der bisher 30 regionalen Ratsversammlungen soll es 69 geben, die je nach lokalen Bräuchen und Tradition "zur Stärkung der nationalen spirituellen Sicherheit beitragen und einen toleranten sunnitischen Islam fördern".

Diese regionalen Theologenräte halten Versammlungen in Moscheen ab, organisieren Veranstaltungen an Universitäten, bei Frauenorganisationen, aber auch in Privathaushalten.

Zudem sollen die Räte dafür sorgen, dass Imame an Fortbildungskursen teilnehmen. Eine religiöse Weiterbildung, die sich der marokkanische Staat 200 Mio. Dirham (18 Mio. Euros) kosten lässt. Für die etwa 3 Millionen Exilmarokkaner wird ein spezieller 18-köpfiger Rat eingerichtet, der kultur- und grenzübergreifend aktiv sein und "marokkanische Identität und Glauben schützen will".

Dies ist die zweite Reform, nachdem 2004 das Religionsministerium neu organisiert und die Gesetzgebung für Moscheen einer Revision unterzogen wurden.

Nur sind die Reformen diesmal wesentlich weit reichender. "Der König macht damit deutlich", so der Islam-Experte Rachid Bezine, "dass er die oberste und einzige Autorität ist und diese selbsternannten Theologen bekämpft".

Mit einem anderen Imam wäre das nicht passiert

Dabei geht es weniger um Scheichs wie Mohammed Maghraoui, die obskure Fatwas veröffentlichen. Man will endlich den religiösen Extremismus in den Griff bekommen, der vor der Anwendung von Gewalt nicht Halt macht.

Seit den Selbstmordanschlägen in Casablanca 2003, bei denen 45 Menschen ums Leben kamen, konnten die marokkanischen Behörden über 50 Attentatsversuche von Islamisten auf Ziele im In- und Ausland vereiteln.

Man will in Zukunft radikales Denken bereits im Anfangsstadium entdecken, bevor es zu spät ist, und aus normalen jungen Menschen plötzlich Islamisten werden, die bereit sind, ihr Leben und das Anderer aufs Spiel zu setzten. Die neuen regionalen Räte und die Schulungskurse für Imame, bedeuten mehr Kontrolle und "Outreach-Politik" zugleich.

Moschee in Tanger; Foto: Alfred Hackensberger
Die vom Monarchen geschaffenen religiösen Räte sollen die Kontrolle über die Imame in den mehr als 40.000 Moscheen im ganzen Land verbessern und verhindern, dass dort der radikale Islamismus weiter wächst.

​​"Mein Freund könnte heute noch am Leben sein", meint Rait, ein Studienkollege von Moncef Benmassaud, der als Selbstmordattentäter 2007 im Irak starb. "Er war ein ganz normaler Typ, der studierte, aber auch Spaß haben wollte und an Mädchen interessiert war. Plötzlich war es damit vorbei", sagt er nachdenklich. "Mit einem anderen Imam wäre das alles nicht passiert".

Rait meint Abdelilah Fathallah, den heute in Haft sitzenden Imam der El Yazid Moschee in Jamaa Merzouak, einem trostlosen Wohnviertel der am Mittelmeer gelegnen Stadt Tetouan. Bei ihm hatte sein Freund Moncef vor seiner Abreise regelmäßig gebetet, wie auch alle anderen 30 jungen Männer, die aus Tetouan in Richtung Irak verschwunden sind.

Bereits Jahre zuvor waren in der El Yazid Moschee einige der Attentäter des Anschlags auf die Nahverkehrszüge in Madrid vom 11. März 2004 ein- und ausgegangen.

Wie evangelikale Fernsehprediger

"Angeblich kamen sie alle, weil der Imam den Koran so schön rezitieren konnte", erzählt Jamal Benhayoun von der Universität Tetouan schmunzelnd. "In Wirklichkeit ging es natürlich um eine von langer Hand geplante Manipulation junger Menschen, denen ein Imam scheinbar einen neuen Weg, ein neues Leben zeigte", fügt der Professor für vergleichende Kulturwissenschaft hinzu.

Mit den neuen Strukturen, die der oberste Theologenrat entworfen hat, sei so etwas kaum mehr möglich, schon gar nicht über einen Zeitraum von mehreren Jahren.

Weniger positiv sieht das dagegen Raschid Benzine vom Institut für Politische Studien in Aixen Provence. In der Zeitung "Le Monde" warnte er vor der Verbreitung eines radikalen Islamismus im Internet und einigen Fernsehstationen, die aus der Golfregion senden. Islamistische Prediger arbeiteten heute wie evangelikale Fernsehprediger. "Unter diesen Umständen gibt es keinerlei Garantien, dass die Reformen die gewünschte Wirkung zeigen".

Sicherlich spielt die Propaganda im Internet oder auf manchen TV-Sendern eine Rolle, aber von der Dschihad-Lektüre bis zur Zündung einer Bombe ist es ein weiter Weg. Da bedarf es schon eines "Transmitters", der, wie in der kleinen Moschee in Tetouan, den entscheidenden Impuls, aber vor allen Dingen auch Kontakte und Geld liefert.

Alfred Hackensberger

© Qantara.de 2008

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