"Der Wandel kommt von innen“
Frau Sadiqi, nach 2011 haben sich die Themen der arabischen Frauenbewegungen verändert. Fragen rund um den Frauenkörper stehen heute im Vordergrund. Woran liegt das?
Fatima Sadiqi: Viele frühere Tabus rund um den Körper von Frauen sind heute keine mehr. Außerdem hat sich die Frauenbewegung selbst verändert, sie ist heute keine Bewegung im klassischen Sinn mehr. Sie ist lokaler ausgerichtet und hat eher konkrete Probleme im Fokus wie zum Beispiel häusliche Gewalt, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz oder Ungleichheit in Erbschaftsfragen. Vieles passiert heute mehr an der Basis.
Heißt das auch, es gibt nicht mehr den einen arabischen Feminismus?
Sadiqi: Die Bewegung fächert sich in der Tat auf. Manche Frauen wenden sich dem islamischen Feminismus zu, beschäftigen sich mit den heiligen Texten und zentralen Fragen von Frauenrechten im Islam. Sie interpretieren Korantexte aus weiblicher Perspektive und zwar öffentlich, etwa in Tunesien, Algerien, Marokko oder Ägypten. Es gibt heute eine neue Sicht auf das Thema Islam und Frauenrechte.
Dabei geht es den Frauen weniger darum, die Religion zu verteidigen, als die letzte Bastion des Patriarchats anzugreifen. Denn die einzigen Gesetze, die in unseren Gesellschaften heute noch auf dem Islam basieren, sind im Familienrecht zusammengefasst. Islamische Feministinnen fordern die islamische Rechtsprechung heraus, weil diese ausschließlich aus männlicher Perspektive verfasst wurde.
Ist islamischer Feminismus nicht eine eher akademische Angelegenheit?
Sadiqi: Ja und nein. In den 1980er und 1990er Jahren waren die Frauenbewegungen säkular orientiert, aber ab 1990 hat es eine Annäherung zwischen "säkularen“ und "islamischen“ Feministinnen gegeben, denn es wuchs das Bewusstsein, dass sie beide das Gleiche wollen, nämlich dass es Frauen gut geht.
Das liegt auch an politischen Veränderungen, die es seitdem gegeben hat. Islamische und säkulare Stimmen versuchen heute verstärkt, eine gemeinsame Basis zu finden, wobei Bürgerrechte im Mittelpunkt stehen. Bei den säkularen Frauenrechtlerinnen wuchs die Einsicht, dass man Religion nicht einfach abstellen kann, sie gehört zum Leben dazu. Die Annäherung zwischen den beiden Lagern hat unterschiedliche Frauen zusammengebracht, sowohl Intellektuelle als auch Aktivistinnen.
"Das Kopftuch als trennendes Merkmal verliert seine Schärfe"
Trennt sie das Narrativ "säkular versus islamisch“ nicht mehr?
Sadiqi: Heute streiten Frauen mit und ohne Kopftuch gemeinsam für mehr Rechte. Vor allem in Marokko verliert das Kopftuch als trennendes Merkmal seine Schärfe. Andere Themen treten in den Vordergrund, zum Beispiel die Frage nach einem gerechten Erbrecht. Die alte religiöse Garde wird herausgefordert. Aber auch die Gelehrten haben sich verändert. Es gibt heute durchaus offene islamische Gelehrte, die sich in die Diskussionen einschalten und ihrerseits von konservativen Kreisen angegriffen werden.
Diese Entwicklungen bringen unterschiedlich orientierte Frauen zusammen. Das heißt nicht, dass säkulare und islamische Frauen in allen Fragen übereinstimmen. Aber es gibt weniger Feindschaft zwischen ihnen und mehr Pragmatismus: Lasst uns gemeinsam die Probleme angehen. Wir werden reifer. Es gibt weniger Emotionen, weniger Ideologie und das ist gut.
Arabische Frauen sind im Beruf und im öffentlichen Leben sichtbarer als noch vor zehn Jahren. Gleichzeitig haben Gewalt gegen Frauen und sexuelle Belästigung in ganz Nordafrika eher noch zugenommen. Wie erklären Sie sich das?
Sadiqi: Ich sehe hier einen Zusammenhang mit der hohen Arbeitslosigkeit unter den Männern. In einer Gesellschaft, die den Mann als Ernährer ansieht, stehen Männer unter großem Druck: Ein Mann muss das Geld nach Haus bringen. Außerdem ist das Patriarchat bei uns räumlich strukturiert und das haben wir seit Jahrhunderten in unserer Psyche internalisiert: Der öffentliche Raum ist ein Raum der Männer.
Je mehr Frauen in den öffentlichen Raum drängen, desto mehr sexuelle Belästigung gibt es zunächst. Aber wir haben jetzt auch in Nordafrika mehr und mehr Gesetze, die Frauen vor Gewalt schützen sollen. Natürlich steht zwischen einem Gesetz und seiner Umsetzung auch eine konservative Mentalität, deshalb wird es dauern, bis sich die Dinge grundlegend ändern. Aber das Problem ist heute viel stärker im öffentlichen Bewusstsein.
Frauen der jüngeren Generation sagen, sie würden heute Vorfälle bei der Polizei anzeigen. Das wäre in der Tat ein erheblicher Wandel. Ihre Mütter hätten sich das nicht getraut.
Sadiqi: Es ist immer noch sehr schwer für eine Frau, etwa eine Vergewaltigung anzuzeigen, denn sie verkörpert die Ehre der Familie. Das steckt immer noch in unseren Köpfen. Ihr Mann könnte sich scheiden lassen oder man könnte ihren Vater oder Bruder verächtlich machen. Aber es gibt inzwischen Frauen, die zur Polizei gehen, in den meisten Fällen allerdings den Täter anonym anzeigen. Immerhin reden wir jetzt darüber. Und dieser Wandel kommt von innen. Wir lehnen westliche Werte nicht ab, aber wir müssen unseren eigenen Weg gehen.
In den urbanen Zentren hat sich die Situation von Frauen also teilweise verbessert, aber wie ist das in ländlichen Gebieten? Dort sind die Lebensbedingungen oft viel schlechter.
Sadiqi: Das stimmt. Eine der Ursachen für den sog. Arabischen Frühling war die Vernachlässigung ländlicher Regionen. Bis heute haben wir z.B. in Marokko eine hohe Analphabetenrate auf dem Land. Selbst politisch Verantwortliche räumen Fehler nach der Unabhängigkeit ein. Bis heute gibt es Orte in Marokko, in denen Frauen unter erbärmlichen Bedingungen leben. Es gibt Dörfer ohne Elektrizität, wo Frauen Wasser von weit herholen und auf ihrem Rücken tragen müssen. Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich bin selbst auf Land groß geworden. Das sind Dörfer, die nicht zu dem Marokko gehören, das Sie in den Städten sehen. Hier sind mehr Anstrengungen notwendig. Es gibt heute den politischen Willen dazu, aber es geht zu langsam voran.
"Für die Frauen vom Land haben wir nicht viel getan"
Haben auch die arabischen Frauenbewegungen die Interessen von Frauen auf dem Land zu lange übersehen?
Sadiqi: Die Frauenbewegungen sollten ihnen auf jeden Fall mehr Aufmerksamkeit schenken. Ich gehöre seit mehr als 30 Jahren zur Frauenbewegung und muss sagen, dass wir nicht viel für diese Frauen getan haben. Aber seit 2011 sehe ich einen großen Spring nach vorne.
In Marokko kommt noch die ethnische Komponente dazu. Viele Frauen auf dem Land sind Amazigh (Berber) und somit doppelt diskriminiert. Werden sie heute besser gehört?
Sadiqi: 2011 wurden die Berber-Sprachen in der neuen marokkanischen Verfassung offiziell anerkannt. Seitdem sind die Stimmen der Amazigh-Frauen an die Öffentlichkeit gekommen, vorher waren sie nur im privaten Umfeld zu hören. Historisch gesehen waren die Amazigh-Frauen Königinnen und Kriegerinnen. Nach der Ankunft des Islam sind viele ihrer kulturellen Praktiken nur im privaten Raum erhalten geblieben. Man kann sie in der Kunst, in der Körperbemalung, in Poesie und Sprache sehen. Das Problem liegt aber nicht in der Religion Islam, sondern in dem Patriarchalen, das mit ihm kam.
Wie verschaffen sich die Amazigh-Frauen heute Gehör?
Sadiqi: Heute gibt es im Marokko etwa elf feministische Nichtregierungsorgansiationen (NGOs) von Amazigh-Frauen. Sie verlangen z.B. mehr Raum für Frauenleben in Schulbüchern, mehr Anerkennung für ihre Kultur und bessere Bildungschancen für Mädchen und Frauen. Amazigh-NGOs in ländlichen Regionen sind näher an den Frauen, die vor allem grundlegende Infrastruktur wie bessere Gesundheitsdienste brauchen und sie sind besser mit der Realität vor Ort vertraut. NGOs in den Städten sind dafür näher an den politischen Machtzentren. Ihnen geht es vorrangig darum, in öffentlichen Diskursen präsent zu sein.
Sie kommen selber aus einer Amazigh-Familie und sind auf dem Land aufgewachsen. Sind Sie damit eine Ausnahmeerscheinung in der Frauenbewegung? Lange Zeit kamen arabische Feministinnen doch eher aus der urbanen Oberschicht.
Sadiqi: Das gilt für die erste Generation von Feministinnen, für die Pionierinnen der 1970er Jahre. Aber ab den 1980ern und 1990er Jahren waren auch mehr Frauen aus ländlichen Gebieten engagiert. Frauen etwa, deren Väter in der Armee waren, wie mein Vater. Diese Familien zogen dann häufig in die Stadt und kamen dort erst einmal nicht zurecht. Für sie war mehr Bildung der einzige Weg, um in der Gesellschaft aufzusteigen, auch für ihre Töchter.
Aber die Feministinnen, die ursprünglich vom Land stammen, haben ihre Herkunft nicht im feministischen Diskurs thematisiert. Es gibt heute sehr unerschrockene Feministinnen mit Amazigh-Hintergrund, aber wenige in akademischen Kreisen. Davon brauchen wir mehr.
Interview von Claudia Mende
© Qantara.de 2021
Fatima Sadiqi lehrt Linguistik und Gender Studies an der Universität Fez in Marokko.
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