Kein Grund zur Panik
Man könnte meinen, Europa stehe vor dem Ausbruch eines Krieges. So, wie der Mord von Sarajewo einst den Ersten Weltkrieg auslöste, so wird nun der Mord am niederländischen Filmemacher Theo van Gogh in Amsterdam von Kommentatoren, selbsternannten Islam- oder Terrorismus-Experten (beides ergänzt sich heute ja so wunderbar) als Fanal für den so oft beschworenen "Kampf der Kulturen" dargestellt.
Ein Kampf, der nicht mehr mit Worten, sondern mit Waffen geführt wird und bei dem es langfristig um die Macht in Europa gehe.
So warnt ein Autor der konservativen Tageszeitung "Die Welt" vor den Islamisten: "Unter Berufung auf den Urislam des siebten Jahrhunderts streben sie die 'Wiederherstellung' einer 'islamischen Ordnung' als der nach ihrem Verständnis einzig legitimen Staats- und Gesellschaftsform an. Sie soll alle anders geprägten Ordnungssysteme ersetzen."
Und der Islam-Kritiker Hans-Peter Raddatz kann sich in derselben Zeitung auslassen, der Staat ermögliche den Extremisten erst noch, Netzwerke zu bilden - im Schutz des so genannten "Dialoges", dessen "Günstlinge" nur ein Ziel hätten: "Nach den eigenen Vorschriften zu leben und den demokratischen Rechtsstaat auszuhebeln".
Weniger krass – aber nicht minder tumb - die Meinung anderer "Experten", die seit dem Amsterdamer Mord Nachrufe auf Toleranz und Liberalität in den Niederlanden verbreiten und in diesen den Grund sehen für die Gewalt, weil man unbesehen zu viele Muslime ins Land gelassen habe – mit knapp einer Million im Verhältnis zur Bevölkerung immerhin etwa doppelt so viele wie in Deutschland.
Kann man Liberalität und Toleranz eines Landes für gescheitert erklären, weil ein Fanatiker einen so grässlichen Mord begeht? Und weil der Täter im Umfeld einer radikalen Moschee-Gemeinde zu solch einem Fanatiker wurde?
So unbefriedigend dies auch sein mag: So etwas kann nun einmal passieren. In jedem Land. Fanatiker und Labile gibt es überall. Besonders in diesen Zeiten, wo immer häufiger Religion zu politischen Zwecken missbraucht wird.
Entgegen den Unkenrufen seit der Ermordung van Goghs - die einzige Konsequenz aus dem Geschehen muss heißen: Die Integration der unter uns lebenden Andersgläubigen – nicht nur der Muslime – voranzutreiben. Und Integration heißt nicht Aufgabe der eigenen Identität.
Die Eigenart muss respektiert werden. Sie muss sich nur an dem - in Europa zumindest – noch recht großzügig angelegten Rechtssystem orientieren: Wer hier leben will, der muss die staatliche und gesellschaftliche Ordnung um ihn herum akzeptieren, sonst ist er hier auf Dauer fehl am Platz.
Aber diese gesellschaftliche Ordnung muss auch eben jene Freiheit, Liberalität und Toleranz gegenüber den "Anderen" aufbringen und praktizieren, die im Fall der Niederlande von den Schwarzsehern so kritisiert wird.
Diese Kritiker verlieren kein Wort darüber, dass der ermordete Regisseur mit einem zwar wohlgemeinten aber visuell überaus provozierenden Film die Gefühle gläubiger Muslime auf das Tiefste verletzt hatte.
Keine Rechtfertigung für Gewalt, gewiss. Aber auch bei den weltweiten Protesten gegen den Jesusfilm und in anderen ähnlichen Fällen war es immer ein Thema, dass auch die künstlerische Freiheit nicht grenzenlos sein dürfe und könne. Sondern dass sie – wie jede Freiheit – ihre Grenze "bei der Freiheit des anderen" finde. Wenn überhaupt irgendwo, dann haben Liberalität und Toleranz hier versagt.
Peter Philipp
© DEUTSCHE WELLE/DW-WORLD.DE 2004