Integrationspolitik auf dem Prüfstand
Nach der Ermordung des Filmemachers Van Gogh durch einen Marokkaner kommt es zu Brandanschlägen auf Moscheen und Kirchen. Die holländische Integrationspolitik, jahrelang liberales Modellprojekt Europas, wird zunehmend in Frage gestellt. Von Lennart Lehmann
Der offenbar islamistisch motivierte Mord an dem provokanten Filmemacher Theo van Gogh durch einen Fanatiker marokkanischer Herkunft wird keine Auswirkungen auf die Integrationspolitik der Niederlanden haben, sagt der Pressesprecher des Amsterdamer Ausländerbeauftragten, Gijs von der Fuhr.
Diskussionen mit Muslimen führen
Auch der Anthropologe Thijl Sunier von der Universität Amsterdam warnt davor, falsche Schlussfolgerungen aus dem Anschlag zu ziehen: "Die Situation in Holland hat diesen Vorfall nicht erzeugt. Die Diskussion darf nicht über die Muslime geführt, sondern sie muss mit ihnen geführt werden." Von der Fuhr wies darauf hin, dass die muslimischen Dachverbände in Holland das Attentat scharf verurteilt hatten.
Mittlerweile scheint klar, dass der Täter einer extremistischen Vereinigung angehört. Der 26-jährige hatte am Tatort eine Morddrohung gegen die niederländische Parlamentsabgeordnete Ayaan Hirsi Ali hinterlassen. Ali war an dem Film "Submission" beteiligt, der die Ermordung Van Goghs ausgelöst hatte. Der Kurzfilm kritisiert Diskriminierungen von Frauen im Islam.
Abschied von Hollands Integrationsmodell?
Die brutale Ermordung Van Goghs hat die Diskussion um die zuletzt in die Kritik gekommene Integrationspolitik in Holland neu angefacht. Dabei galt das liberale holländische Modell lange als Vorbild für ein friedliches Miteinander verschiedener Religionen und Konfessionen.
"Im 17. Jahrhundert, zu Beginn der Kolonialzeit, hatten sich Protestanten, Juden und Katholiken zusammen getan, um gemeinsam mehr Geld zu verdienen", so Von der Fuhr. Erst die Geburt des "Säulensystems", die jeder Konfession eine Säule in der Gesellschaft zubilligte, machte es möglich, eine riesige Handels- und Kriegsflotte zu finanzieren.
Diese Interessengemeinschaft scheint aber schon lange nicht mehr zu funktionieren – spätestens seit der massiven Einwanderung türkischer und marokkanischer Arbeiter seit den 1970er Jahren. Europaweit spricht man vom Scheitern des holländischen "Poldermodells" in integrationspolitischer Hinsicht.
Sunier sieht für den Niedergang dieses "Säulensystems" allerdings einen strukturellen Grund: "Die Grundlage war einst, dass der Staat keine öffentliche Wohlfahrt bereitstellte: Die Kirchen kümmerten sich um die Armen, Alten und Kranken. Als nach dem Zweiten Weltkrieg der Wohlfahrtsstaat aufkam, hat sich das geändert."
Holland müsse sich nun fragen, wo der Islam in der Gesellschaft stehe. "Die Verfassung garantiert die Gleichheit der Religionen. Gleichheit wird hier eher definiert als Gleichberechtigung der unterschiedlichen Gemeinschaften - anders als in Frankreich, wo die individuelle Gleichheit stärker betont wird.
"Manche denken deshalb, unser System hätte Ähnlichkeiten mit dem Multikulturalismus in Großbritannien", meint Sunier. "Aber wir hatten nie eine multikulturelle Gesellschaft. Muslime wurden zwar als eine homogene Gruppe angesehen. Aber das ist kein Multikulturalismus im eigentlichen Sinne."
Ein großes Problem in Holland ist die Gettoisierung der marokkanischen, türkischen sowie der rund 100.000 illegalen Einwanderer - verbunden mit Problemen wie Kriminalität und Abschottung. 40 Prozent der marokkanischen Jungen haben keinen Schulabschluss, die Arbeitslosigkeit unter Ausländern ist viermal höher als unter Niederländern.
Zunehmende Polarisierung
"Wir haben Arbeitsmigranten geholt und vergessen, was wir mit ihren Kindern tun sollen. Das ist nicht Toleranz, sondern Ignoranz", kritisiert Von der Fuhr. Als Reaktion darauf treten islamische Verbände zunehmend stärker als politische Akteure auf, aber der Ton in Holland bekommt auch nationalistische Züge:
Polemische Äußerungen gegen den Islam häufen sich, rechte Parteien profitieren in der Wählergunst. In der Vergangenheit war es bereits in Städten wie Amsterdam, wo mittlerweile ein Drittel der Bevölkerung aus dem Ausland stammt, zu offenen Straßenschlachten gekommen.
Die Ermordung Van Goghs war in ganz Holland als Angriff auf die Meinungsfreiheit verurteilt worden. Unmittelbar nach der Tat kam es zu Demonstrationen, zu denen Amsterdams Bürgermeister Job Cohen aufgerufen hatte.
Muslimische Verbände fürchten unterdessen weitere Racheakte aus der emotionalisierten Bevölkerung. In der Folge des Mordanschlags war es zu Brandanschlägen auf Moscheen, aber auch auf Kirchen gekommen.
Sunier betont, dass die holländische Integrationspolitik viel erreicht habe. "Es gibt bei uns islamische Schulen, die von der Schulverwaltung überprüft werden, so wie andere Schulen auch. Trotzdem denken manche Leute, dort werde ein radikaler Islam gelehrt."
Im Gegensatz zu Deutschland gibt es in Holland eine stärkere Kooperation zwischen muslimischen Dachverbänden und dem Staat. Von der Fuhr ist unmittelbarer Berater muslimischer Organisationen, etwa der holländischen "Milli Görüs" oder der marokkanischen Interessenvertretung "Ummon".
Das betrifft die Ausbildung von Vorstandsmitgliedern oder die Auseinandersetzung mit problematischen Themen wie der gleichgeschlechtlichen Ehe.
"Ich frage auch, wo wollt ihr in zehn Jahren stehen?", erläutert Von der Fuhr. Die Weigerungshaltung in anderen europäischen Ländern, sich mit muslimischen Verbänden auseinander zusetzen, hält er für einen Fehler. "Man muss die Leute ansprechen, die da sind!"
Lennart Lehmann
© Qantara.de 2004