Neue Formen der Partizipation
Der Cihangir-Park befindet sich am Ende einer der sternförmig angelegten, ansteigenden Gassen des Istanbuler Stadtteils Beyoğlu: eine kleine Grünfläche mit zwei Holzpavillons, dahinter Klettergerüste für Kinder, links davon befindet sich ein Basketballplatz. Der Park ist eine kleine Oase, umringt von fünfstöckigen, dicht aneinandergedrängten Häusern.
Es ist ein heißer Sommerabend. Katzen streunen um das Eingangstor, ein paar Jugendliche versuchen sich am Basketballkorb, die vorbeifahrende Müllabfuhr entleert scheppernd einige Abfalleimer. Im Park haben sich rund 50 Menschen zusammengefunden, die meisten von ihnen sind um die 30 Jahre, manche auch älter.
Sie sitzen im Kreis auf dem Boden, auf Holzbänken, lehnen an einer Balustrade und lauschen den Worten einer Rednerin. "Die Mainstream-Medien könnt Ihr vergessen!", sagt sie. "Ihr müsst zusehen, woher Ihr Eure Informationen bekommt und wie Ihr am effektivsten diese Informationen verbreitet."
Gegen Bevormundung, Zensur und Selbstzensur
Es ist keine geringere als die Journalistin Banu Güven, die an diesem Abend vom "Offenen Forum Cihangir" eingeladen wurde, um über Pressefreiheit, Zensur und Selbstzensur zu sprechen.
Sie informiert auch darüber, dass in der Türkei mittlerweile über 60 Journalisten im Gefängnis sitzen und dass seit dem Beginn der Proteste um den Gezi-Park am 27. Mai vielen von ihnen gekündigt wurde. Banu Güven selbst war aufgrund eines als skandalös bezeichneten Interviews im Zusammenhang mit den Gezi-Protesten von ihrem Arbeitgeber entlassen worden.
"Alles hat damit begonnen, dass man uns aus dem Gezi-Park rausgeschmissen hat", erklärt die Lehrerin Ceren Candemir die Geburtsstunde des zivilgesellschaftlichen Forums. "Daraufhin haben wir uns andere Grünflächen gesucht, um uns auszutauschen."
Seitdem trifft sich die Gruppe drei Mal in der Woche. "Wir haben uns diesen Park für unsere Treffen ausgesucht, weil er in dem Viertel liegt, in dem wir leben und den die Bewohner unseres Viertels regelmäßig aufsuchen." So beschreibt die Architektin Özgür Çimen den lokalen Charakter der Bewegung.
"Wir befinden uns momentan noch ganz am Anfang", erklärt der 24-jährige Psychologe Alper Anak. "Im Moment diskutieren wir hauptsächlich über Themen, die uns direkt betreffen. Zum Beispiel war unser Wohnviertel einst sehr kosmopolitisch. Armenier und Griechen lebten hier, doch heute ist davon kaum mehr etwas zu sehen", schildert Anak seine Eindrücke. "Alle Straßennamen hat man verändert. Gleichzeitig wurden hier Transvestiten ermordet und Schwule aus ihren Häusern vertrieben. Wir diskutieren darüber, wie wir das Bewusstsein für den besonderen Charakter unseres Wohnortes und seine Geschichte bei der Bevölkerung schärfen können."
Für die 50-jährige Hausfrau Nurgül Çetinkaya geht es darum, sich für den Erhalt ihres Viertels und den Park zu engagieren. Ein erster Schritt in diese Richtung ist zum Beispiel der nahegelegene kleine Gemüsegarten (Romabostanı), der von der Bürgerinitiative selbst angelegt worden ist.
Eine Diskussionsplattform für alle Meinungen
Die Idee hinter den "Offenen Foren" ist, eine Diskussionsplattform für alle Meinungen zu schaffen. Über Facebook und Twitter wird bekannt gegeben, über welches Thema diskutiert werden soll.
Landesweit wird die Zahl der Foren auf 120 geschätzt, allein in Istanbul gibt es um die 40. Im Gegensatz zu dem großen Istanbuler Forum Abbasağa im Stadtteil Beşiktaş, das Aktionen wie Tauschmärkte oder Fahrraddemos organisiert, oder dem Yoğurtçu Parkı in Kadıköy, ist das Cihangir-Forum eher klein. Zwar hat die Teilnehmerzahl seit Anfang der Proteste abgenommen, doch das Forum wirbt bewusst auch für die Teilnahme all jener, die völlig andere, ja gegenteilige Meinungen vertreten.
Für Ceren Candemir ist die Bewegung ein Zeichen dafür, dass die Gräben zwischen Rechten und Linken, zwischen Türken, Kurden, Tscherkessen, Aleviten längst aufgehoben sind. "Ich war einmal die Leiterin des Frauenvereins der ultranationalistischen Partei MHP, doch vor zwei Wochen habe ich zum ersten Mal 'Es lebe Kurdistan!' gerufen", erzählt die Absolventin der Boğaziçi Universität.
"Wir leben unsere eigene Geschichte"
Heute gehe es vielmehr darum, sich Gedanken zu machen, welche Quellen im Geschichtsunterricht für Kinder in 50 Jahren herangezogen werden. Und wie die von der Regierung heute so geringschätzig als Plünderer (Çapulcu) bezeichneten Demonstranten einmal in den Geschichtsbüchern dargestellt werden, so Ceren Candemir.
Die Teilnehmer des Forums betrachten sich als Teil einer gewaltfreien, zivilgesellschaftlichen und basisdemokratischen Bewegung, die langfristig das Ziel verfolgt, ihre Menschenrechte und die Lebensqualität in ihrem Viertel friedlich zu verteidigen. Dabei haben sie den Rücktritt der AKP-Regierung nie offen gefordert. Die Gründung einer eigenen Partei scheint den Aktivisten jedoch noch zu früh, nicht zuletzt weil die Sperrklausel für politische Parteien mit zehn Prozent deutlich zu hoch liegt.
Doch auf lange Sicht, davon ist Alper Anak überzeugt, wird aus der Bewegung eine neue Organisationsform hervorgehen. "Das muss keine Partei im herkömmlichen Sinne sein. Vielleicht eher eine Protestbewegung wie in Italien im Stile des Bloggers und Kabarettisten Beppe Grillo. Zwar lässt sich das gegenwärtig noch nicht vorhersagen, aber mit den Protesten im Gezi-Park ist der Stein ins Rollen gekommen und dies führen wir in den Foren fort."
Ceyda Nurtsch
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de