Sucht nach Superlativen
Womit haben die gegenwärtigen Demonstrationen in Istanbul ihren Anfang genommen? Es ging um die Bebauung des Gezi-Parks, einer der letzten Grünflächen im Zentrum Istanbuls. Dort sollte nach dem Willen Erdoğans unter anderem ein neuer Shoppingtempel entstehen. Und die Bäume durch den unstillbaren Hunger nach Kapital zu Fall gebracht werden.
Es ist kein Wunder, dass sich der Protest an einem Bauprojekt entzündete. Denn am deutlichsten tritt der neoliberale Kurs, den die AKP-Regierung seit mehr als zehn Jahren eingeschlagen hat, in ihrer Bauwut am Bosporus zutage. Erdogans Großprojekte in Istanbul sind verschiedener Art. Doch in ihrer Umstrittenheit ähneln sie einander.
Bauwut am Bosporus
Das wohl fragwürdigste Vorhaben ist der Bau einer dritten Brücke über den Bosporus nahe der Mündung ins Schwarze Meer. Am 29. Mai, auf den Tag genau 560 Jahre nach der Eroberung Konstantinopels durch Sultan Mehmet II., eröffnete Erdoğan den Baubeginn. Ist sie erst einmal fertiggestellt, wird die Brücke Rekordausmaße angenommen haben: ihre Pfeiler sollen die weltweit höchsten werden. Neben dem PKW-Verkehr auf vier Fahrspuren wird auch die Eisenbahn darüber rollen.
Befürworter des Projekts argumentieren, dass die dritte Brücke für den Transitverkehr gebaut werde. Lastkraftwagen könnten die Stadt besser umfahren und die anderen zwei Brücken würden entlastet. Eine Studie der türkischen Autobahngesellschaft spricht jedoch von anderen Zahlen: Nicht einmal drei Prozent mache der Transitverkehr aus. Auch ein Blick in die Geschichte lässt eine Entlastung als unwahrscheinlich erscheinen.
Istanbul wird durch den 30 Kilometer langen Bosporus in eine europäische und eine asiatische Seite unterteilt. Jahrhundertelang spielte sich die Stadtentwicklung im unteren Drittel dieses Nord-Süd-Bands ab. Mit dem Bau der beiden ersten Brücken über den Bosporus 1973 und 1988 erlebte Istanbul einschneidende Veränderungen in der Stadtlandschaft. Um die Brücken entstanden neue Siedlungen, das Bevölkerungswachstum stieg rasant an. So weitete sich die Stadt auf das zweite Drittel aus.
Zusätzliche Belastungsprobe für Istanbul
Inzwischen hat sich das Zentrum der Stadt in Gegenden verschoben, die noch bis vor wenigen Jahrzehnten dörflich geprägt und eher unbedeutend waren. Mit dem Bau der dritten Brücke, so sind sich Experten sicher, wird auch das letzte nördliche Drittel von der Stadt verschluckt werden. Mit neuen Siedlungen und Geschäftsanlagen um die Brücke wird auch die Zahl der Autos abermals ansteigen. Zwischen den Jahren 1980 und 2010 hatte sie sich schon verzehnfacht, von 200.000 auf rund zwei Millionen.
Die dritte Brücke wird so zu einer zusätzlichen demografischen Belastung für Istanbul. Engin Yılmaz, Leiter der türkischen Umweltorganisation "Doğa Derneği", geht in seiner Kritik noch weiter. In seinem Kommentar in der Zeitung "Today's Zaman" schreibt er, dass Istanbul am besten damit gedient wäre, wenn auch die zweite Brücke wieder abgerissen würde. Sie habe der Stadt einen großen Schaden zugefügt und die Bevölkerungsexplosion befeuert.
Hinzu kommen die Schäden für die Umwelt, vor der Naturschützer schon seit Jahren warnen. Die Autobahnen an den Enden der neuen Brücke werden durch empfindliche Waldgebiete am Norden des Bosporus verlaufen. Diese letzte noch unbebaute Region im Großraum Istanbul gilt nicht nur als die grüne Lunge der Stadt. Dort befinden sich auch wichtige Trinkwasserreservoirs.
Affront für die Aleviten
Protest regt sich auch aus einem anderen Grund: Als Namensgeber für die dritte Brücke hat sich die türkische Regierung Sultan Selim I. ausgesucht, der mit seinen Feldzügen die Fläche des Osmanischen Reiches fast verdreifachte. Er trägt noch heute den Beinamen "der Grausame". Als fanatischer Sunnit machte sich Selim I. die Verfolgung schiitischer Gruppierungen zur Chefsache. Der Sultan ließ 40.000 Aleviten umbringen. Für die schätzungsweise 15 Millionen Aleviten in der Türkei stellt diese Namensgebung daher einen Affront dar.
Auch wenn die Brücke zurzeit die größte Aufmerksamkeit erfährt, ist sie doch nur eines einer ganzen Reihe von Großprojekten in der Nordregion. Bis 2017 soll am Schwarzen Meer ein dritter Flughafen für Istanbul entstehen. Dieser wird nach dem Willen türkischer Politiker zum größten Drehkreuz der Weltluftfahrt aufsteigen.
Der Haken auch hier: 85 Prozent des Flughafengeländes sollen auf einem bis jetzt geschützten Waldgebiet entstehen. Nach einem Bericht des türkischen Umwelt- und Stadtplanungsministeriums müssen dafür 650.000 Bäume gefällt und 1,85 Millionen "umgepflanzt" werden. Weitere Projekte in der gleichen Region sind ein Schifffahrtskanal und eine 1,5-Millionen-Satellitenstadt.
Einen anderen Superlativ versucht Erdoğan auf einem Hügel im anatolischen Stadtteil Camlica. Dort wird, auf einer Fläche von 250.000 Quadratmetern thronend, bald die größte Moschee der Türkei stehen.
Auch hier vermischen sich moderne Baupläne mit verklärter Geschichte: Die Minarette der Moschee sollen eine Höhe von 107,1 Metern haben. Im Jahr 1071 besiegten die Seldschuken die christlichen Byzantiner und machten so den Weg für die Eroberung Anatoliens durch die Türken frei.
Eine Partei setzt sich ein Denkmal
Die Tatsache, dass die Moschee von jedem Punkt der Stadt aus sichtbar sein soll, lässt bei Kritikern vor allem eines vermuten: Es geht hier nicht nur um den Bau eines neuen Gebetshauses für die muslimischen Gläubigen, sondern vielmehr um ein weiteres Denkmal für die AKP-Regierung.
Was Istanbul momentan erlebt, ist eine großflächige Umstrukturierung zu einer "Global City". Hinter dem viel beschworenen Konzept verbirgt sich der Gedanke, eine Stadt zu einem Dreh- und Angelpunkt des Welthandels zu machen. Multinationale Konzerne sollen sich in Istanbul wohl fühlen. Es geht ums große Geld – die Stadt soll künftig in der ersten Liga der Weltmetropolen mitspielen.
Hinzu kommt die Kandidatur Istanbuls als Ausrichtungsort für die Olympischen Spiele 2020. Sollte der Titel an Istanbul gehen, dürfte ein neuerlicher Bauboom die Folge sein. Doch Imre Azem, Aktivist und Regisseur des Films "Ekümenopolis", glaubt daran nun nicht mehr: "Nach den Protesten werden die Chancen Istanbuls für dieses Rennen deutlich geringer ausfallen", so sein Fazit.
Denn zu den kritischen Stimmen zahlreicher Soziologen und Naturschützer, die es schon seit Jahren gibt, gesellen sich spätestens seit "#occupygezi" auch immer mehr Bürger der Stadt. Sie wurden zu den Baustellen nicht gefragt – und spüren den Wandel in ihrer Metropole am eigenen Leibe: Zunehmend werden Bewohner aus ihren Vierteln, teils gewaltsam, vertrieben – Stichwort "Gentrifizierung".
Gleichzeitig ließ die Regierung großflächig unpersönliche anonyme Wohnsiedlungen errichten. Solche Gegenden wurden in anderen Großstädten zu Brutstätten sozialer Unruhe (siehe Paris und London) – eine gefährliche Entwicklung, die Stadtforscher schon jetzt für Istanbul prognostizieren.
Wenn kein radikales Umdenken bei den verantwortlichen Politikern einsetzt, wird den Bewohnern Istanbuls das Atmen in ihrer Stadt bald schwer fallen. Doch Erdoğan ist kein Mann, der leicht zum Umdenken zu bewegen ist. Es braucht gehörigen Druck und vielleicht auch ein Wunder. Dieser Druck hat sich jetzt Bahn geschlagen – zum ersten Mal in Erdoğans zehnjähriger Ministerpräsidentschaft.
Marian Brehmer
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de