Generationen des Zorns

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Was nährt den radikalen Islamismus, und wie lässt er sich differenzieren? Eine Analyse mit fünf Ansatzpunkten, wie Europa in der muslimischen Welt konstruktiv agieren könnte.

Von Volker Perthes

​​Westliche Politik hat allmählich begriffen, dass es bei der Analyse von extremistischen Gruppen, die sich islamisch definieren, zu differenzieren gilt. Politisch relevant ist die Unterscheidung zwischen Bewegungen, die eine lokale politische Agenda und deshalb eine lokale Basis mit verhandelbaren Zielen haben, und jenen, die einen Raum und Zeit transzendierenden globalen Kampf zu führen glauben.

Diese Unterscheidung war im "Global War on Terror" der Bush-Administration verloren gegangen, ist aber von amerikanischen Regierungsstellen wiederentdeckt worden. Gleichwohl darf man nicht übersehen, dass es in weiten Teilen der arabischen und muslimischen Welt eine transnationale Stimmung gibt, die eine gewaltsame Mobilisierung im Namen eines kämpferischen Islam zumindest erleichtert.

Auch wenn die gesellschaftliche Mehrheit dieser Länder keineswegs radikal oder gewaltorientiert ist, finden wir von Marokko bis Pakistan und auch in der muslimischen Diaspora in Europa mittlerweile mindestens zwei Generationen junger Männer – und einiger Frauen –, deren Zorn in Gewaltbereitschaft oder in Indifferenz gegenüber Gewaltaktionen umschlägt.

Politischer Zorn, religiöse Sprache

Während die Generation, aus der die Gründer von al-Kaida stammen, vor dem Hintergrund des damals noch amerikanisch unterstützten Befreiungskampfes islamischer Jihadisten gegen die sowjetische Okkupation Afghanistans aufwuchs, wurde die jüngere Generation im Schatten des amerikanischen Kriegs gegen den Terror sozialisiert, den viele als Kampf des Westens gegen den Islam verstehen.

Bild Volker Perthes; Foto: picture alliance/dpa
Volker Perthes sieht den viel beschworenen clash</i> nicht zwischen "dem Westen" und "dem Islam", sondern innerhalb der arabisch-islamischen Gesellschaft: zwischen den Globalisierungswilligen und den reaktionären Kräften; Foto: picture alliance/dpa

​​Der Zorn dieser Generationen wird nicht mehr von revolutionären Regimen oder nationalen Befreiungsbewegungen kanalisiert. Der Zorn ist weiter politisch, die Zornigen aber, vor allem ihre Vordenker, bedienen sich einer religiösen Sprache, um den radikalstmöglichen Widerstand gegen die Verhältnisse zu legitimieren.

Strukturell macht sich diese Auflehnung an drei Phänomenen fest. Erstens sind da die als ungerecht empfundenen Verhältnisse in den eigenen Ländern, also schlechte Regierungsführung: Korruption, Missachtung der Menschenrechte, fehlende Rechtsstaatlichkeit und soziale Ungleichheiten. Die islamische Theologie hat ungerechte Herrschaft oft als unislamisch denunziert; insofern fällt auch der utopische Umkehrschluss leicht, dass die Rückkehr zum "wahren Islam" die vermisste Gerechtigkeit garantieren würde.

Palästina als offene Wunde

Zweitens ist da das Gefühl, dass die eigenen Länder von fremden, nicht muslimischen Mächten, vornehmlich des Westens, an ihren Entwicklungschancen gehindert werden. Man sieht, dass westliche Regierungen arabische Autokraten unterstützen, und man würde in amerikanischen oder israelischen Militärschlägen gegen Iran nur einen Beweis für das Streben des Westens erkennen, muslimische Nationen klein zu halten.

​​Das dritte Element ist der Palästina-Konflikt. Nicht, dass es, wenn die Palästinenser ihren eigenen Staat hätten, keine extremistischen Bewegungen in der muslimischen Welt oder keinen islamistischen Terrorismus gäbe. Der Konflikt bleibt aber die wichtigste offene Wunde, an der sich dieser Extremismus nährt, und das wichtigste Symbol für die Mobilisierung derjenigen, die den Islam in einem existenziellen Kampf mit dem Westen sehen.

Das wirkt vor allem außerhalb Palästinas: Für die Palästinenser ist die Verwirklichung ihrer nationalen Ambitionen ein konkretes, kein symbolisches Ziel, das sie durch politische, diplomatische oder gewaltsame Mittel, aber kaum durch einen "globalen Jihad" zu verwirklichen suchen.

Die Auseinandersetzung mit dem islamisch begründeten Extremismus ist in erster Linie ein Kampf um die Zukunft der arabisch-muslimischen Welt. Gerade die geschilderte erste Dimension des Zorns lässt sich nur durch tiefgehende politische Reformen in diesen Ländern auflösen. Dazu sind die vom Westen zu Bündnispartnern erkorenen autokratischen Regime allerdings oft kaum bereit.

Staatlichkeit ist Voraussetzung für Demokratie

Europäische Regierungen können Reformen anmahnen und unterstützen. Europäische Politik muss sich allerdings auch Gedanken machen, wie ihre eigene Politik zum Auf- oder Abbau des Zornpotenzials in der muslimischen Welt beiträgt. Fünf kurze Ratschläge:

Europa sollte in der arabisch-muslimischen Welt solche Akteure unterstützen, die friedlich für Veränderung in ihren Ländern eintreten. Das heißt auch zu akzeptieren, dass Zivilgesellschaft nicht nur jene umfasst, die einen säkularen Diskurs pflegen, sondern auch konservative islamische Kräfte. Es ist sicher so, dass es ohne die nationalen moderaten Kräfte des politischen Islam keine nachhaltigen politischen Reformen in der arabischen Welt geben wird.

Politischer Wandel ist nie linear, er ist immer voller Widersprüche, Umwege und Rückschläge. Es empfiehlt sich deshalb, das Konzept der Demokratie operational in seine konstituierenden Elemente aufzubrechen. Das bedeutet insbesondere Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, unabhängige Justiz, Transparenz, Meinungsfreiheit und freie Wahlen, wobei diese zwar das entscheidende, sicher aber nicht das erste und auch kein hinreichendes Element nachhaltiger politischer Reform sind. Demokratie, das ist essenziell, kann einem weit umfassenderen Prozess des state building nicht vorhergehen; Staatlichkeit ist vielmehr Voraussetzung konsolidierter Demokratie.

In der Entwicklung von Staaten besteht eine enge Beziehung zwischen wirtschaftlichem Fortschritt, Bildungsstand, dem Wachstum der Mittelschichten und den Chancen zur Verankerung von Pluralismus und demokratischen Prozessen. Das heißt, dass die Förderung der Entwicklung neuer Mittelschichten richtig bleibt, um Grundsteine für Veränderung zu legen.

Für westliche Akteure ist es essenziell, die Bedeutung des arabisch-israelischen Konflikts und zunehmend auch des Konflikts im Irak für die politische Entwicklung der Region nicht zu ignorieren. Europäische Glaubwürdigkeit, nicht nur die Glaubwürdigkeit der USA, wird in der Öffentlichkeit der arabischen Staaten an der Bereitschaft unserer Staaten gemessen, für die Beilegung dieses Konflikts bzw. dieser Konflikte zu wirken.

Wo verläuft die Konfliktlinie?

Auch wenn die Gräben tiefer geworden sind: Es gibt keinen Kulturkonflikt, der "den Westen" gegen "den Islam" positioniert. Der eigentliche clash findet innerhalb der arabisch-islamischen Zivilisation statt. Er verläuft zwischen denjenigen, die ihre Länder in die Globalisierung führen wollen, und reaktionären Utopisten, die ihren Gesellschaften totalitäre Zwangsjacken verpassen möchten.

Wir Europäer können dabei entscheiden, ob wir unseren tatsächlichen und potenziellen Partnern in der Region das Leben erschweren, indem wir sie zum Objekt unserer Politik machen, oder ob wir sie durch glaubwürdiges politisches, gesellschaftliches und wirtschaftliches Engagement unterstützen.

Volker Perthes

© Qantara 2008

Der Nahostexperte Volker Perthes ist Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.

Volker Perthes: Iran – Eine politische Herausforderung. Die prekären Balance von Vertrauen und Sicherheit, Berlin: Suhrkamp 2008, 159 S.