"Vieles von unserer Kultur haben wir vergessen"
Leili ist 23 Jahre alt und lebt mit ihrer Familie in Aschgabat, der Hauptstadt Turkmenistans. Im Land am Kaspischen Meer herrscht eine der strengsten Diktaturen der Welt. Kein Lebensbereich, der nicht vom Apparat des Präsidenten Saparmurat Turkmenbaschi, der sich selbst den Beinamen "der Große" gegeben hat, kontrolliert wird.
Das gilt auch für die Religion. Der ausgiebig gefrönte Personenkult, den Turkmenbaschi um seine Person veranstalten lässt, reicht bis in die Moscheen: Die zweite Auflage des "Ruhnama", ein von Turkmenbaschi selbst verfasstes Buch, das seine ganz persönliche Vision turkmenischer Geschichte und Kultur zum Inhalt hat, ist nicht nur zentraler Lernstoff in den Schulen und Universitäten des Baumwollstaates, sondern soll auch in Moscheen ausliegen.
Flucht vor dem Alltag
Seit der Unabhängigkeit im Jahr 1991 erträgt Leilis Familie zusammen mit den 4,5 Millionen Einwohnern des Landes die Repressionen des Diktators. Möglichkeiten, dem zuweilen bedrückenden Alltag zu entfliehen, bieten Ausflüge aufs Land. Schon zu Sowjetzeiten unternahm man daher Pilgerfahrten. Unter den Sowjets wurden diese Praktiken im Zuge anti-religiöser Kampagnen verfolgt. Turkmenbaschi wiederum erhob die Pilgerfahrt zur patriotischen Pflicht.
Es ist noch früh am Morgen, als sich Leili und ihre Familie an einem Sonntag zu einer Pilgerfahrt zum Grab des Mystikers Ak-Gulschan aufmachen. In einem ungarischen Ikarus-Bus passieren die etwa 20 Pilger die hell angestrahlten, weißen Prachtbauten der Straßen. An jeder Ecke ein Portrait des Präsidenten. Über den Straßen hängen Parolen: "Ein Volk, ein Land, ein Turkmenbaschi! Ruhnama ist der spirituelle Führer der Turkmenen!"
Die Männer tragen dunkle Lederjacken und lehnen mit den Köpfen schläfrig an den Scheiben. Die Frauen tragen schlichte Kleider oder lange Röcke. Leili trägt eine Jeans unter dem Rock, denn es ist noch kühl. Das Kopftuch will sie erst bei den heiligen Stätten anlegen. Im Kofferraum des Busses liegen ein geschlachtetes Schaf, Brot, Salate.
Jeder Ort hat seinen Heiligen
50 Kilometer später steht Leili auf dem Friedhof einer großen neuen Moschee in Gök Depe. Dort befindet sich auch eine kleine, verwitterte Kapelle. "Das ist das Grab von Ak-Gulschan", erklärt Leili. "Er ist der Cousin von Ak-Ischan. Wenn man Ak-Ischan besucht, muss man Ak-Gulschan auch besuchen, sonst ist er beleidigt."
Fast jeder Ort kannte so einen Heiligen. Es waren meist Männer - manchmal auch Frauen. Man verehrte sie als Klangründer oder als rätselhafte Außenseiter. Sie vermittelten zwischen zerstrittenen Gruppen, segneten die Aussaat und die Ernte, heilten Krankheiten, berieten bei Heiratswünschen, stellten Talismänner her, brachen den "bösen Blick", oder halfen mental verwirrten Menschen, wieder klar zu werden.
"Vieles, was ich in Turkmenistan sehe, gefällt mir nicht."
Leili hat ein Jahr in Lübeck gelebt. Sie hat gearbeitet und gelebt "wie eine Deutsche". Sie war beeindruckt von der Zielstrebigkeit und von der Lockerheit der Germanen. Sie war in einem reichen Land. Nach ihrer Rückkehr wurde sie von Freundinnen gefragt, warum sie in Deutschland nicht geheiratet habe und dort geblieben sei. Kaum einer der jungen Leute in Aschgabat will verstehen, dass sie in ihr Land zurück wollte.
"Vieles, was ich in Turkmenistan sehe, gefällt mir nicht. Aber ich bin hier zu Hause", sagt sie. Ihre Eltern finden, dass sie längst hätte heiraten sollen. Immerhin ist sie schon 23 Jahre alt. Turkmeninnen heiraten üblicherweise mit ca. 20 Jahren.
Sprache wird von oben bestimmt
Die Kapelle von Ak-Gulschan liegt auf historischem Gelände. In Gök Depe metzelte 1881 die Armee des russischen Zaren 15.000 Turkmenen nieder, weil diese russische Versorgungstruppen in der Region überfallen hatten.
Anschließend wurde Turkmenistan russische Kolonie, und die Nomaden wurden sesshaft gemacht. Was blieb, war die Geringschätzung durch die Russen, sagt Leili: "Wir durften unsere Sprache nicht sprechen. Vieles von unserer Kultur haben wir vergessen."
Ein paar Kilometer weiter biegt der Bus auf eine schmale Lehmstraße ab. Ein kleines blaues Blechschild weist den Weg in arabischer Schrift: Ak-Ischan. Ein Ort, den nur der findet, wer ihn kennt, denn kaum jemand beherrscht das arabische Alphabet. Die alten Turkmenen waren Nomaden und zogen das gesprochene Wort dem geschriebenen vor. Die Sowjets führten das Kyrillische ein, und die jetzige Regierung hat das lateinische Alphabet durchgesetzt.
Kochen ist Männersache
In Ak-Ischan angekommen, wickeln sich die Frauen bunte Kopftücher um, die Männer setzen sich eine Mütze auf. Russische Schapkas, Wollmützen, amerikanische Baseballcaps. Der Aufseher der Pilgerstätte kommt und begrüßt die Ankömmlinge. Kühltaschen mit Essen werden in einen zugewiesenen Raum geschleppt, der mit Plastikmatten ausgelegt ist. Als man noch nicht mit dem Auto hierher kam, konnte man hier übernachten.
Die Neuankömmlinge bekommen schon mal ein bisschen Fleisch zu essen, das die schon anwesenden Pilger nicht mehr schaffen. Dafür wird man vor der Abfahrt das übrige Fleisch neuen Pilgern geben. Die Frauen zerlegen ein Schaf, dann kommt es in einen der vielen bereit stehenden Töpfe. Die Zubereitung ist Männersache. "Die Männer misstrauen den Frauen", sagt Leili lächelnd.
Der Mullah führt die Gruppe auf das Gelände der Moschee. Der First des einfachen Gebäudes ist mit einem Paar gewaltiger Schafshörner verziert. Jeder Pilger muss sich neben dem Gotteshaus durch ein aus Ästen gefertigtes, symbolisches Tor zwängen, um den "heiligen Raum" zu betreten. Rechter Fuß zuerst.
Die Sage von Ak-Ischan
Hinter der Moschee dann ein kleiner Platz, der von einer weißgekalkten Mauer umgeben ist. Die Pilger sammeln sich um die Mauer und blicken in den Innenraum. Dort stecken Stöcke im Boden. "Sie markieren die Stellen, an denen Ak-Ischans Körperteile vergraben wurden, nachdem er von seinen Feinden getötet und zerstückelt wurde", erklärt der Mullah. Dann betet er stellvertretend für alle auf Arabisch.
Der Sage nach begingen die 40 Söhne Ak-Ischans nach dem Tod ihres Vaters Selbstmord. Gott stellte den verblichenen Ak-Ischan vor die Wahl, entweder alle Söhne wiederauferstehen zu lassen oder einen von ihnen zu einem Heiligen zu machen. Ak-Ischan entschied sich für Letzteres.
Der auserkorene Sohn musste allerdings eine Aufgabe lösen. Er sollte erraten, welcher Inhalt sich in einer geheimnisvollen Kiste verbarg. Eine Ameise eilte ihm zur Hilfe und berichtete ihm, dass es sich um weiße und schwarze Steine handele. Seitdem gelten Ameisen und Menschen als Freunde.
Ausflugsstimmung
Auf dem Gelände hinter der Moschee verstreut sich die Gruppe. Es gibt dort einen Brunnen, der mit einem dicken Teppich zugedeckt ist. Es heißt, man kann in ihm die Zukunft sehen. Leili steckt ihren Kopf unter die Decke und blickt in den Brunnen. "Was hast du gesehen?", fragen ihre Cousinen. Leili kichert.
Dann beginnt der Müßiggang. Essen, Tee Trinken, Reden, in der Umgebung Spazieren, von Sanddünen Springen. Man diskutiert über Bräuche und ignoriert, dass Präsident Turkmenbaschi sogar Monate nach sich und seinen Familienmitgliedern benennen ließ.
"Man müsste die alten Leute fragen"
Im Monat Sapar muss man ein schwarzes Schaf opfern. Süßigkeiten spenden geht auch. An Tagen, die mit einer 9 verbunden sind, soll man nicht heiraten. Auch nicht im Monat Meret, "dem schwarzen Meret" und im Monat Bosch. "Bosch bedeutet Leere, das ist ein schlechtes Omen." Schon wieder das Thema Heiraten, Leili lächelt gequält.
Der Fastenmonat heißt auf Turkmenisch Orasa. An Tagen, die mit einer Eins verbunden sind, soll man nicht nach Osten reisen. Glück und Unglück werden bestimmt von einem geheimnisvollen Stern. Der Morgenstern? Die Meinungen gehen auseinander. Ein unsichtbarer Stern, ein schwarzer Stern... "Man müsste die alten Leute fragen."
Als es Abend wird, bekommt jeder ein wenig in Stoff gewickeltes Salz mit auf den Weg. Manche Frauen nehmen Wasser in Plastikflaschen mit. "Das bringt Gesundheit." In Aschgabat warten die mit Scheinwerfern bestrahlten Marmorpaläste und die monumentalen Portraits des Turkmenenführers. Aber nach so einer Pilgerfahrt erscheint alles in einem anderen Licht.
Lennart Lehmann
© Qantara.de 2004