Die saudische Parabel
Für die Feministinnen (so nannten sie sich selbst), die ich in Saudi-Arabien traf, war der fürchterliche Krieg im Nachbarland Jemen kein Thema. Sie waren damit beschäftigt, sich selbst und andere Frauen aus den Fesseln eines absurden Vormundschaftssystems zu befreien, in dem ein weibliches Wesen lebenslang das Mündel eines Mannes bleibt.
Die Vorkämpferinnen setzten ihre Hoffnung dabei - außer auf die eigene Kraft - auf jenen Mann, der für zahlreiche Kriegsverbrechen auf dem jemenitischen Schauplatz haftbar zu machen wäre: Kronprinz Mohammed bin Salman, Verteidigungsminister und Saudi-Arabiens starker junger Mann.
Der 32jährige designierte Thronfolger wird im globalisierten politischen Jargon als Reformer bezeichnet – ein Umstand, der vor allem zeigt, wie wenig dieser Begriff besagt. Nach landläufiger Vorstellung gibt es in außereuropäischen und zumal islamischen Ländern eine Art von Paket, das mit dem R-Wort etikettiert wird und in dem sich routinemäßig Folgendes befindet: Mehr Rechte für Frauen und Minderheiten, Marktliberalismus, Bereitschaft zur Kooperation mit dem Westen. Wird dieses Paket ausgepackt, nennt man das Modernisierung. Da die Moderne aber bekanntlich von uns erfunden wurde, machen Reformen die islamischen Länder uns, dem Westen, zwangsläufig ähnlicher.
Eine Moderne zum Fürchten?
Soweit der Irrglaube. Tatsächlich entwickelt im 21. Jahrhundert jedes Land seine eigene Moderne, und Saudi-Arabien ist dafür gerade eine Parabel. Noch ist nicht ausgemacht, ob die Moderne-Variante von Mohammed bin Salman nicht doch hauptseitig zum Fürchten ist.
Was in den vergangenen Monaten unter seinem direkten oder indirekten Einfluss geschah, lässt sich in drei Kategorien fassen. Erstens: Frauen sollen mehr zur nationalen Wirtschaft beitragen; dazu wird ihnen das Autofahren erlaubt und das ominöse Vormundschaftswesen so weit eingeschränkt, dass es weibliche Berufstätigkeit nicht behindert. Zweitens: Der Prinz will die ganze Macht; Konkurrenten werden kaltgestellt, Gegner arretiert. Drittens: Seine Außenpolitik ist provokativ und nationalistisch.
Und während langgediente saudische Aktivistinnen also Freudentränen in den Augen hatten, als sie von der Aufhebung des Fahrverbots erfuhren, ging die humanitäre Katastrophe im Jemen ihren Gang, diese Formulierung muss man wohl wählen, wenn Hungersnot, Elend und Cholera nur noch von jenen Hilfsorganisationen verzeichnet werden, die seit Monaten vergeblich nach einer neuen politischen Initiative zur Beendigung des Kriegs rufen.
Autokraten und Frauen
Es ist nicht ganz neu, Frauenrechte zusammen mit Repression, gar Folter auf einem politischen Menü zu finden. Erinnert sei etwa an den Autokraten Ben Ali in Tunesien, wo sich ein sogenannter Staatsfeminismus entwickelte.
Auch Mubarak liebte die Frauen, Baschar al-Assad nicht minder, und der Schah von Iran hatte eine kleine gebildete weibliche Oberschicht zum Brillieren. Manche Frauenrechtlerinnen ließen sich korrumpieren, verschlossen die Augen vor den Verbrechen eines Staates, dem sie den eigenen Aufstieg verdankten. In Tunesien wirkt das bis heute nach.
Um nicht missverstanden zu werden: Jeder Zentimeter mehr Freiheit für saudische Frauen ist gut. Aber dass der Kronprinz die Macht einer misogynen Geistlichkeit zurückdrängt und man ihm nachsagt, er spreche die Sprache der Jugend, darf über anderes nicht hinwegtäuschen. Hier wächst in Windeseile ein aggressiver Jung-Herrscher heran, dem im Königreich bereits jetzt kaum jemand mehr in den Arm fallen kann.
Saudi-Arabiens Bindung an den Westen wird seit Jahrzehnten mit einer chronisch beschönigenden Berichterstattung belohnt. Einst fanden Journalisten, wenn es um Panzerankäufe ging, auf dem Nachtschrank in Riad schon mal eine goldene Rolex als Betthupferl. Wie lange hat es gedauert, bis die Öffentlichkeit zögerlich zur Kenntnis nahm, dass unser strategischer Partner den weltweit kulturlosesten Islam praktiziert? Und kein einziges Kirchlein erlaubt für seine ausgebeuteten christlichen Gastarbeiterinnen?
In jüngster Zeit schließt jede Nachricht über die erratische saudische Außenpolitik mit dem Satz, das Königreich kämpfe mit Iran um die Vorherrschaft in der Region. Die Floskel erklärt nichts, sie wickelt das Unverständliche nur in Pseudo-Plausibilität.
Deutschland merkte erstaunlich wenig auf, als Mohammed bin Salman jüngst den obersten Führer Irans, Ali Khamenei, einen "neuen Hitler" nannte. Für welchen Echoraum war das gedacht? Kaum für die arabische Straße; dort haben (leider) immer noch zu viele eine gute Meinung von Hitler. Der Prinz zielte vielmehr auf den Westen, und er benutzte dafür die Sprache von Israels Premierminister Benjamin Netanjahu. Der hatte Iran schon öfters unterstellt, einen "weiteren Holocaust" zu planen.
Kein Appeasement gegenüber Teheran
In der Tat rücken Israel und Saudi-Arabien im nahöstlichen Machtpoker gerade zusammen. Die Saudis erkennen den Staat Israel nicht an? Ist doch wurscht. Wenn der iranische Revolutionsführer der neue Hitler ist, dann darf es ihm gegenüber kein Appeasement geben. Das könnte auch ein Tweet von Trump sein.
In der Tehran Times befand der iranische Journalist Mohamed Hashemi, der saudische Prinz habe für seinen Hitler-Vergleich womöglich einen deutschen Inspirator: den Staatsrechtler Carl Schmitt. Dessen Idee, ein Souverän könne den Ausnahmezustand selbst herbeidefinieren, um daraus dann die Legitimität diktatorischer Notstands-Vollmachten abzuleiten, motiviere auch Mohammed bin Salman.
Spinnt man diesen Gedanken weiter, dann macht es womöglich auch Sinn, dass sich ausgerechnet Saudi-Arabien nun an die Spitze des Kampfes gegen islamistischen Terror setzen will. Denn es handelt sich dabei um eine neue Militärallianz mit Sitz in Riad; ein weiteres Machtinstrument für den Prinzen.
Eine andere Möglichkeit wäre, all jene Stipendiaten, Muslime vieler Länder, die in Saudi-Arabien extremes Denken lernten, zu einem großen Entgiftungs-Workshop nach Mekka zu rufen. Davon wurde indes nichts bekannt.
Charlotte Wiedemann
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