Der Feind im Innern
Pakistans Militärkommandanten trafen sich unlängst zur Einschätzung der Folgen des massiven Bombenanschlags in Quetta vom 8. August, der mindestens 70 Menschen tötete und in der Provinz Belutschistan eine ganze Generation von Rechtsanwälten in den Tod riss. Viele bewerteten den Anschlag als heimtückische Verschwörung gegen all jene Bemühungen, die politische Gewalt im Land zu beenden. Diese Sicht der Kommandanten deckt sich mit ihrer selektiven Militärkampagne, die sich gegen bestimmte Gruppen wie die pakistanischen Taliban und die sunnitisch-muslimische "Lashkar-e-Jhangvi" richtet.
Die eigentliche Lektion des Anschlags von Quetta lernten die Militärs allerdings nicht: Dadurch, dass das Militär und die Nachrichtendienste Pakistans seit Jahrzehnten davon profitieren, dass saudische Kreise sektiererische und ultrakonservative Gruppen finanzieren, wurde das Land fast unwiderruflich gespalten. Im Bildungsbereich wurde das kritische Bewusstsein von Generationen religiöser Studenten durch einen Lehrplan getrübt, der auf stumpfem Auswendiglernen engstirniger Ansichten und Vorurteile beruht. Dies führte dazu, dass die pakistanische Gesellschaft heute von Bigotterie und Frauenfeindlichkeit durchsetzt ist.
Warten auf Befehle
"Der Feind im Innern ist keine Randerscheinung... Ein großer Teil der Gesellschaft sympathisiert mit diesen Gruppen", schreibt der pakistanische Kolumnist Ejaz Haider in einem seiner Kommentare. "Sie werden auf direkte oder indirekte Weise von diesem Bevölkerungsteil finanziert und stellen neue Rekruten. Sie lehnen die Verfassung und das System ab. Und sie leben nicht nur im "Hinterland", sondern könnten unsere Nachbarn sein. Es reicht nicht, dass die Streitkräfte in den Randbereichen entlang der pakistanisch-afghanischen Grenze agieren, sondern sie müssen auch in den Städten zum Einsatz kommen, wo hunderte oder tausende von Menschen Schläferzellen bilden, auf Befehle warten oder Anschläge planen."
Ein Beispiel dafür ist die Militäraktion gegen die "Lashkar-e-Jhangvi", deren Führung bei einem Zusammenstoß mit pakistanischen Sicherheitskräften größtenteils eliminiert wurde. Die "Lashkar-e-Jhangvi" hat enge Verbindungen zu der verbotenen anti-schiitischen und anti-ahmadischen Organisation "Sipah-e-Sabaha", die unter verschiedenen Namen und mit Unterstützung der Regierung weiterhin offen aktiv ist.
Die Sipah-Anführer haben sich in einigen ihrer seltenen, aber langen Interviews nicht davor gescheut, über ihre engen Verbindungen zu bestimmten staatlichen Einrichtungen Pakistans und Saudi-Arabiens zu sprechen. Beide Länder hätten sie dazu gedrängt, mit ihren sektiererischen Aktivitäten einen grundlegenden Wandel in Richtung einer toleranteren, integrativeren Gesellschaft zu torpedieren.
"Oft leiten die Saudis enorme Summen über pakistanische Industriemagnate an uns weiter", berichtet ein Sipah-Mitbegründer. "Diese Unternehmer sind schon lang in Saudi-Arabien tätig, pflegen enge Beziehungen zur Familie Al-Saud und der saudischen Unternehmergemeinschaft und sind auch in Großbritannien und Kanada geschäftlich aktiv. Einer von ihnen gab uns 100 Millionen Rupien im Jahr. Wir hatten so viel Geld, das es völlig egal war, was bestimmte Dinge kosteten."
Frontstellung gegen Schiiten
Als der Sipah-Anführer Ahmad Ludhyvani, ein makellos angezogener muslimischer Gelehrter, in seinem von pakistanischen Sicherheitskräften beschützten Hauptquartier in der Stadt Jhang eine Rede hielt, bemerkte er, dass sowohl die Sipah als auch Saudi-Arabien die muslimische Missionarstätigkeit der Schiiten bekämpften, auch wenn die Sipah eher pakistanische als saudische Interessen vertritt.
"Diese Dinge sind doch völlig normal", so Ludhyvani. "Es ist genau so, wie wenn sich zwei Pakistanis im Ausland begegnen oder jemand aus Jhang in Karatschi eine andere Person aus Jhang trifft. Es ist ganz natürlich, sich mit den Menschen am verbundensten zu fühlen, mit denen wir Gemeinsamkeiten haben… Wir sind die größte anti-schiitische Bewegung in Pakistan. Dass Saudi-Arabien sich in Pakistan einmischt, können wir nicht erkennen."
Der ruhig wirkende Politiker verteidigte auch die Bemühungen seiner Gruppe, im Parlament ein Gesetz durchzusetzen, das angeblich die Würde des Propheten Mohammed und seiner Begleiter achtet. Doch im Grunde ist das Gesetz ein Sprungbrett für die Institutionalisierung antischiitischer Ressentiments, ähnlich der von Saudi-Arabien inspirierten pakistanischen Verfassungsänderung von 1974, mit der die Religionsgemeinschaft der Ahmadis zu Nichtmuslimen erklärt wurde. Dies hatte zur Folge, dass inzwischen alle, die einen pakistanischen Reisepass beantragen, gezwungen sind, schriftlich einen anti-ahmadischen Eid zu leisten.
Unterstützung von höchster Stelle
Von Sipah-Funktionären wurde bestätigt, dass ein großer Geldbeschaffer der Gruppe ein pakistanischer Kleriker aus Makkah ist. Dabei handelt es sich um den Vorsitzenden des internationalen Arms des "Aalmi Majlis Tahaffuz Khatm-e-Nubuwwat" (AMTKN), einer militanten anti-ahmadischen Gruppe in Pakistan mit engen Verbindungen zur Sipah.
Die Sipah machte ihre pakistanische und saudische Unterstützung publik, als sie letztes Jahr in Islamabads prestigeträchtigem Marriott-Hotel ein Abendessen für Abdallah Ben Abdel Mohsen Al-Turki veranstaltete. Al-Turki war der frühere saudische Minister für religiöse Angelegenheiten und Generalsekretär der "Islamischen Weltliga", einer großen saudischen Einrichtung zur Finanzierung ultrakonservativer und militanter Gruppierungen. Die von der saudischen Botschaft in der pakistanischen Hauptstadt finanzierte Veranstaltung wurde von hunderten von Gästen besucht, darunter befanden sich auch pakistanische Minister und Religionsführer, die in den Vereinigten Staaten als Terroristen geführt werden.
Dass diese Unterstützung von Gruppierungen, die Intoleranz und sektiererischen Hass predigen, zerstörerische Folgen hat, wird auch durch einen weiteren beunruhigenden Trend in Pakistan verdeutlicht: der zunehmenden Anzahl von Ehrenmorden und tödlichen Angriffen auf Künstler, Schriftsteller und Journalisten. Das Ziel dieser Anschläge besteht darin, die Unterdrückung der Frauen aufrecht zu erhalten, die Dominanz der religiösen über die weltliche Ausbildung zu sichern und sowohl die traditionelle als auch die populäre Kultur zu untergraben.
Dies spiegelt sich auch in der Kontroverse über den sogenannten "Rat für Islamische Ideologie" wider, dessen Büros in Islamabad sich ironischerweise in der Atatürk-Allee befinden. Der Rat wurde gegründet, um die pakistanische Gesetzgebung mit dem islamischen Recht in Einklang zu bringen. Er setzt sich gegen die Gemeinschaftserziehung in Pakistan ein – in einem Land, dessen nichtreligiöses öffentliches Bildungssystem daran scheitert, die Schulpflicht durchzusetzen, und ähnlich wie die zahllosen Koranschulen, die von Ultrakonservativen und Vertretern dschihadistischen Denkens geleitet werden, nur unkritische Geister produziert.
Tendenz zur Intoleranz
Im Jahr 2014 erklärte der Rat, ein Mann benötige nicht die Zustimmung seiner Ehefrau, um eine zweite, dritte oder vierte Frau zu heiraten. Auch liefere die DNA eines Vergewaltigungsopfers keinen überzeugenden Beweis für die Tat. Dieses Jahr verteidigte er das Recht von Ehemännern, ihre Frauen "leicht zu schlagen". Ebenso erzwang er die Rücknahme eines Vorschlags zum Verbot von Kinderhochzeiten und erklärte einen solchen Gesetzesentwurf für unislamisch und blasphemisch.
Dadurch, dass Intoleranz, Frauenfeindlichkeit und Sektierertum durch das Militär und die Regierung immer noch stillschweigend oder sogar offen unterstützt werden, können die Bemühungen dieser Institutionen, Intoleranz und politische Gewalt ohne Ausnahme zu bekämpfen, kaum ernst genommen werden. Das Ergebnis ist ein Land, dessen Sozialstruktur und Tradition der Toleranz momentan so grundlegend zuwiderlaufen, dass es eine Generation lang dauern könnte, diesen Trend wieder umzukehren.
James M. Dorsey
© Qantara.de 2016
James M. Dorsey, PhD, ist Senior Fellow an der S. Rajaratnam School of International Studies (RSIS) der Nanyang Technological University in Singapur und Co-Direktor des Instituts für Fankultur der Universität von Würzburg.
Übersetzt aus dem Englischen von Harald Eckhoff