Ein versteckter Krieg
Am 14. Mai 1948 wurde der Staat Israel ausgerufen. Für die Palästinenser war der Tag darauf die Nakba, die "Katastrophe". Wie empfinden Sie diese Tage, in dem sich alles zum 70. Mal jährt?
Suleiman Mansour: Ich bin traurig, nicht nur in diesen Tagen, sondern immer. Traurig, manchmal wütend und manchmal verwirrt. Hört man die Europäer und Amerikaner über Menschenrechte sprechen und schaut dann auf unsere Situation, an der sie nichts ändern – oder noch viel schlimmer, sie unterstützen Israel – dann ist das verstörend.
Wie würden Sie Ihre Situation als Palästinenser heute beschreiben? Beispielsweise in Jerusalem, wo Sie leben …
Mansour: In Jerusalem habe ich das Gefühl, dass eine Art Krieg gegen die Palästinenser geführt wird. Es ist ein versteckter Krieg, nicht einer mit Flugzeugen. Man hat ständig das Gefühl, irgendein Gesetz zu brechen, aber man weiß nicht, worin dieser Verstoß eigentlich besteht. Man fühlt sich ständig bedroht. Man ist nicht frei. Davon abgesehen, mag ich Jerusalem einfach nicht. Es ist ein Touristenort. Wenn man in die Altstadt geht, sieht man nur Souvenirs und Restaurants, es ist keine lebendige Stadt mehr, wie sie es einmal war. Wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich lieber in Ramallah leben oder in Birzeit. Dort ist es viel schöner, ich mag die Natur. Aber ich muss in Jerusalem leben, um meinen "Jerusalem-ID" zu behalten. Als Palästinenser heute muss man also an einem Ort leben, an dem man sich nicht sicher, nicht frei fühlt und den man gar nicht mag, nur um seinen Ausweis zu behalten.
Der sogenannte "Jerusalem ID” gesteht all jenen Palästinensern, die in Jerusalem geboren wurden oder bereits vor 1967 dort lebten, einen Aufenthaltsstatus zu. Sie haben keine israelische Staatsbürgerschaft, können sich aber mit der ID innerhalb Israels bewegen und auch anderswohin reisen. Solange Sie weiterhin dort wohnen …
Mansour: Der Jerusalem-ID stattet einen mit gewissen Privilegien aus. Ich kann nach Jaffa, Haifa oder wohin auch immer fahren. Würde ich diesen Status verlieren, wäre ich ein Niemand. Ich könnte nicht nach Europa, nicht einmal nach Jordanien, nirgendwo hin. Selbst in Ramallah zu leben wäre gesetzlich nicht erlaubt. Alles ist kompliziert hier. Sie wollen unser Leben so kompliziert machen, dass wir am Ende aufgeben und das Land verlassen. Genau deshalb werde ich nicht gehen, ganz gleich, was passiert.
Sie pendeln zwischen Jerusalem und Ramallah im Westjordanland, wo Ihr Atelier ist. Auf jeder Strecke müssen Sie einen Checkpoint passieren, richtig?
Mansour: Ja, sie kontrollieren jedes Mal meinen Ausweis und durchsuchen mein Auto. Das Problem ist aber gar nicht der Checkpoint selbst, sondern die Straße, die dorthin führt. Weil es zwischen Bethlehem und Hebron keine Verbindungsstraße gibt, benutzen alle Leute, die eigentlich dorthin wollen, dieselbe Straße wie ich auf dem Weg zum Checkpoint. Da die Israelis auf dieser Straße aber keine palästinensische Polizei erlauben, geht es dort zu wie im Dschungel. Die Menschen fahren viel zu gefährlich. Und es dauert so lang. Diese Straße zu nehmen und den Qalandia Checkpoint zu passieren, ist Folter. Wenn ich dann endlich mein Atelier erreiche, bin ich erschöpft. Die Fahrt dauert eine Stunde und ich brauche eine Stunde, um mich davon zu erholen. Es ist die reine Zeitverschwendung. All die Menschen, die am Checkpoint stehen und warten, verschwenden ihr Leben.
Sie wurden 1947 in Birzeit geboren, nicht weit von Ramallah. Was haben Ihre Eltern Ihnen über das Jahr 1948 erzählt?
Mansour: Mein Vater und mein Großvater starben beide, als ich drei Jahre alt war. Mein Vater hatte Krebs und mein Großvater starb an Trauer über den Tod seines Sohnes. Also wuchsen wir sechs Kinder allein bei meiner Mutter auf. Sie arbeitete rund um die Uhr als Näherin, um uns zu ernähren. Sie hatte keine Zeit, uns etwas zu erzählen. Eine gute Sache hatte diese Familientragödie aber, ohne Vater aufzuwachsen: Es gab niemanden, der mir sagen konnte, was ich studieren sollte. Ich war völlig frei in meiner Wahl. Die meisten Talente hier im Land werden vergeudet, weil ihre Väter ihnen sagen, was sie tun sollen: Arzt oder Ingenieur werden. Ich hatte niemanden, der meine Wahl infrage stellte.
Wie erfuhren Sie also von der Geschichte Palästinas?
[embed:render:embedded:node:14453]Mansour: Lange Zeit wusste ich so gut wie nichts darüber. In der Schule wuchsen wir unter jordanischer Herrschaft auf. Man sagte uns: Dies ist unsere Fahne – die jordanische Fahne. Das ist unser König – König Hussein. Das war Gehirnwäsche. Als Teenager fing ich dann an, Zeitung zu lesen und wurde zu einem Anhänger Gamal Abdel Nassers [damals ägyptischer Präsident und Verfechter des Panarabismus]. Andere Schüler erzählten mir auch einiges. Und als dann die Besatzung passierte …
… Sie meinen 1967 nach dem Sechstagekrieg, in dem Israel Ostjerusalem und jenes Gebiet eroberte, das heute als Westjordanland bekannt ist …
Mansour: Ja, nach 1967 traf ich Palästinenser aus Israel, und alle hatten eine traurige Geschichte. Also begann ich zu lesen und wurde wütend. Das hat mich stark beeinflusst. Als ich an der Bezalel Hochschule Kunst studierte, wollten sie mir abstrakte Kunst beibringen, das war die Mode damals. Ich wollte das nicht, ich wollte realistisch malen, wie das Leben aussah.
Die Bezalel Hochschule für Kunst und Design in Jerusalem zählt zu Israels renommiertesten Universitäten. Die Studenten dort heute sind Israelis. Waren Sie damals der einzige Palästinenser?
Mansour: Es gab damals einen Palästinenser mit israelischem Pass, aber ich war der einzige Palästinenser aus den besetzten Gebieten. Wir waren alle nett zueinander damals, rauchten gemeinsam Haschisch, das Leben war schön. Im dritten Jahr dann brach ein Feuer in der Universitätsbibliothek aus. Und plötzlich schauten mich alle an, als wäre ich es gewesen. Die Polizei kam sogar und verhörte mich. Was mich wirklich traurig machte, war aber, dass selbst meine Freunde mich als jemanden sahen, der anders war. Ich gehörte plötzlich nicht mehr dazu. Das hat mich auf eine andere Schiene gebracht. Sie fanden später übrigens heraus, dass das Feuer durch einen technischen Defekt ausgelöst wurde.
Heute sind Sie Palästinas wohl bekanntester Künstler. Häufig werden Sie als "Künstler der Intifada" bezeichnet. Sind Sie ein politischer Künstler?
Mansour: Ich finde, diese Bezeichnungen sind übertrieben. Die Menschen brauchen Helden. Und sie wählten mich. Ich mag das nicht. Als Künstler möchte ich nicht in eine Schublade gesteckt werden. Egal, was ich tue, selbst wenn dies überhaupt nichts mit Politik zu tun hat, sagen alle, das ist politisch! Als Mensch mag das gut für das eigene Ego sein, als Künstler ist es nicht so einfach.
Aber sie waren Teil einer politischen Bewegung …
Mansour: Ich bin nicht politisch aktiv. Ich spiegele in meiner Kunst die Welt, in der ich lebe. Und ich habe nun einmal das Pech, unter der Besatzung zu leben. Ich habe das nicht gewählt. Es wäre aber surrealistisch, unter der Besatzung zu leben und allein schöne Blumen und schöne Frauen zu malen. Das geht nicht. Man muss sein Leben spiegeln. Ich verwende viel Symbolik und die Menschen verstehen, was ich damit meine.
In vielen Ihrer Gemälde findet man eine Frau und eine weiße Taube. Dies ist in der Regel ein Symbol für Frieden, aber auch für Freiheit.
Mansour: Eine freie Taube ist eine Friedenstaube. Wenn man frei ist, gibt es Frieden. Das ist ein und dasselbe. Die Frau ist bei mir zu einem Symbol für Heimat und für die Revolution geworden. Jeder, der ein Gemälde mit einer Frau sieht, erkennt, dass ich darin über Heimat spreche. Je schöner die Frau, umso schöner die Heimat.
Während der ersten Intifada erklärten Sie, nur noch Materialien aus Palästina zu verwenden. Welche Idee steckte dahinter?
Mansour: Dies war die Philosophie der Intifada – es ging darum, israelische Waren zu boykottieren und unsere eigenen Ressourcen zu nutzen. Die meisten Menschen taten dies damals, sie beackerten ihr eigenes Stück Land. Ich dachte damals, warum machen das nicht auch wir Künstler? Warum suchen wir nicht nach natürlichen Materialien, mit denen wir arbeiten können? Der Lehm kam mir sofort durch Kindheitserinnerungen in den Sinn. Als Kind half ich meiner Großmutter, wenn sie Bienenstöcke und anderes, sogar Öfen aus Lehm baute. Ich war immer dabei. Später wurde mir dann erst klar, dass dies auch eine Symbolik hatte. Als ich Figuren aus Lehm formte und diese Risse bekamen, wurde mir klar, dass dies das menschliche Schicksal spiegelte – Menschen, die in sich zusammenfallen und schließlich verschwinden.
In der zweiten Intifada ging es dann nicht mehr allein um Boykott. Es ging ums Kämpfen. Waren Sie noch Teil der zweiten Intifada?
Mansour: Nein, ich war nicht Teil der zweiten Intifada. Und die zweite Intifada gefiel mir auch gar nicht, weil sie den Menschen aufgestülpt worden war. Sie war gemacht, und nicht wie eine Revolution entstanden. Aber auch wegen der Gewalt. Israel ist militärisch so stark – also schlagen wir sie ausgerechnet auf diesem Gebiet, in dem sie am besten sind? Also wirklich, das ist dumm. Wenn man kämpfen will, sollte man Israel doch versuchen auf einem Gebiet zu schlagen, das ihnen nicht so leicht fällt.
Glauben Sie nach wie vor, dass Israel zu boykottieren, der richtige Weg für die Palästinenser ist? Was halten Sie von der BDS-Bewegung (Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen)?
Mansour: Mir gefällt BDS. Als sie anfingen, war ich gerade dabei, mit israelischen Künstlern gemeinsame Ausstellungen zu organisieren und gemeinsame Stellungnahmen zu veröffentlichen. Ich gab sie dann immer den Leuten von BDS. Ich bin noch immer mit Omar Barghouti befreundet. Ich mache nicht mehr aktiv mit bei BDS, aber ich unterstütze ihre Sache.
Aber BDS spricht sich explizit gegen gemeinsame Aktivitäten mit Israelis aus. Genau das wird ja häufig kritisiert, dass sie gar keine Diskussion, keine Kontakte zwischen Israelis und Palästinensern mehr zulassen.
Mansour: Damals, in den 1980er Jahren war das noch nicht so. Wir [die israelischen und palästinensischen Künstler] gaben unsere Stellungnahmen damals direkt an Abu Jihad [Chalil al-Wazir, Mitbegründer der Fatah-Partei und damals Stellvertreter von PLO-Führer Yassir Arafat] und sie gefielen ihm. Erst nachdem klar wurde, dass der ganze Friedensprozess ein Witz war, waren sie dagegen, gemeinsame Sache mit den Israelis zu machen.
Die Ausstellungen wurden missverstanden. In Europa sagten die Besucher immer, ihr seid doch Palästinenser und Israelis und arbeitet zusammen, was soll also der ganze Streit? Natürlich gab es Streit auch unter uns Künstlern. Aber die Leute haben das nicht verstanden. Ich habe bis heute israelische Freunde, Künstlerfreunde. Aber ich habe mich mit diesen Ausstellungen in eine Situation gebracht, in der ich – vor allem in der arabischen Welt – angegriffen wurde. Warum sollte ich das weiterhin tun? Wofür? Um die öffentliche Meinung in Israel zu ändern? Das werde ich ohnehin nicht. So oder so driftet sie immer weiter nach rechts ab. Es ist nutzlos. Ich habe mich selbst in Schwierigkeiten gebracht für nichts und wieder nichts.
Wo denken Sie, könnte ein Weg in die Zukunft beginnen? Was halten Sie von der Zweistaatenlösung?
Mansour: Nicht ohne Jerusalem. 1994/95 lag schon mal ein recht akzeptabler Plan auf dem Verhandlungstisch. Dieser sah Jerusalem als ungeteilte Stadt vor. Der Westen würde von den Israelis regiert, sogar die Klagemauer sollte Teil davon sein, Ostjerusalem aber sollte von den Palästinensern regiert werden. Aber keine Teilung, es sollte eine Stadt bleiben. Diese Lösung wäre für eine Menge Menschen akzeptabel, auch für mich.
In diesem Fall also würden Sie Israel als unabhängigen Staat neben einem Staat Palästina anerkennen?
Mansour: Ja. Wobei ich eine Einstaatenlösung bevorzuge. Vielleicht als Konföderation. Das gibt es an vielen Orten, verschiedene Religionen und Sprachen, aber gleiche Rechte. Wir könnten auch das libanesische Modell akzeptieren. Selbst wenn die Juden zahlenmäßig viel weniger wären als die Palästinenser, könnten sie den Premierminister stellen. Kein Problem, man kann zu einer Lösung kommen. Aber man muss es versuchen. Solange der andere aber in einer so starken Position ist und so viel Unterstützung bekommt, muss er nicht über irgendwelche Lösungen nachdenken.
Das Interview führte Sarah Judith Hofmann.
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