"Tahrir/Taksim" - eine neue Protestkultur?
Seitdem es im Juni 2013 zu Protesten auf dem Taksim-Platz in Istanbul kam, die wenig später auf das ganze Land übergriffen, wurden oft Ähnlichkeiten bzw. Unterschiede von Tahrir und Taksim diskutiert: Neben dem generellen Rückgriff auf historische und kulturelle Wurzeln der beiden Länder wurden die soziale Zusammensetzung der Protestierenden, das Wirken des Militärs im Hintergrund, die unterstellte Verstrickung aus- und inländischer Interessengruppen aus Politik und Wirtschaft sowie die Beteiligung der religiösen und säkularen Kräfte innerhalb der beiden Protestbewegungen betrachtet. Aus all diesen Vergleichen sind fruchtbare Diskussionen entstanden, die nicht nur die jüngsten Ereignisse, sondern auch die vergangenen Jahrzehnte in ein neues Licht rücken.
Tahrir und Taksim: zwei zentrale und historisch bedeutsame Plätze, die zunächst der politischen Willenskundgebung des Volkes dienten, und dann über die durchschnittliche Dauer einer Protestveranstaltung hinaus in Beschlag genommen wurden. Je länger diese vom normalen Alltag abgekoppelt waren, desto mehr konkretisierte sich dort für die Beteiligten eine Heterotopie - ein alternativer Gesellschaftsentwurf, in dem zahlreiche Forderungen der Demonstranten nach einem besseren, demokratischeren, pluralistischen Miteinander realisiert werden.
Ein besseres Miteinander
Zu den Angeboten im Gezi-Park und auf dem Tahrir-Platz gehörten Diskussionsveranstaltungen und Vorträge, Einrichtung von "Volksbibliotheken", der bargeldlose Tausch von Dienstleistungen, ambulante medizinische Gratisversorgung - vor allem für die Opfer der Polizeiangriffe. Spezielle deeskalierende Streifen sollten Konflikte unter verschiedenen Fraktionen gewaltfrei schlichten.
Dies bot Ansatzpunkte die Protestierenden zu denunzieren: in Istanbul reichte das von dem Vorwurf, die Demonstranten hätten in der Moschee Alkohol konsumiert bis hin zu der absurden Behauptung, es sei zu Orgien zwischen Armeniern, Juden und Muslimen gekommen. Dieser spalterischen und pauschalisierenden Rhetorik der Machthaber stand der prinzipiell integrierende Ansatz der Protestler gegenüber, besonders im Hinblick auf religiöse und soziale Minderheiten: zum Straßenbild in beiden Metropolen gehörten Gruppen von Betenden, die von anderen Demonstranten geschützt werden. In Kairo war der Versuch Kopten und Muslime gegeneinander auszuspielen vergeblich: auf dem Tahrirplatz trugen Protestierende als Symbol der Toleranz und Einigkeit den Koran und die Bibel, das Kreuz und die Misbaha (Rosenkranz).
Explosion des kreativen Überschusses
Zu betonen ist die teilweise atemberaubend schnelle multimediale Reaktion. So konterkarierte das jordanische Videokollektiv "Kharabeesh" in einer Reihe von in Ägypten millionenfach angeklickten Cartoons die von der Realität seines Landes völlig unbeeindruckten Reden Mubarak; in Istanbul reagierten Twitter, Facebook, dann auch andere Medien schnell auf den "Totalausfall" des türkischen Nachrichtensenders CNN Turk, der eine Tiersendung mit Pinguinen ausstrahlte, anstatt über den unkontrollierten Ausbruch der Polizeigewalt zu berichten – eine Vorlage für unzählige Witze, Kostümierungen und Performances.
Ein hohes Maß an Interaktivität zeichnet auch die wohl augenfälligste Protestform aus, die Graffitis. Die zuvor im Verdeckten, Halb- oder Illegalen ausgeübte Kunstform erlebte eine wahre Explosion von Stilrichtungen, Techniken und Ideen, mit eigenen Stars - Ganzeer, Ammar, Keizer aber auch Nazeer, El Zeft, Nemo, die Mona Lisa Brigade und unzählige andere.
Die Spannbreite reicht von ikonografischen Märtyrer-Darstellungen der Opfer bis hin zu verspielten anarchischen Piktogrammen. Die in Trompe-l'œil-Manier großflächig auf die Straßenblockaden gemalten Freskos des "No Walls Project" waren perspektivisch so genau an dem dahinter liegenden, verdeckten Straßenabschnitt ausgerichtet, dass alle materiellen Widerstände tatsächlich "unsichtbar" wurden.
Da fast alle Wandbemalungen ständig abgewandelt, übermalt, überstrichen und neu aufgetragen wurden, erschien der Stadtraum als in permanentem Wandel begriffen.
Die Stadt als Artspace
Eine Tendenz ist dabei deutlich ablesbar: die Verlagerung der bislang eher latent politischen Kunst aus Museen und Galerien ins Explizite und in den öffentlichen Raum. Diese spontane und nicht-institutionelle Nutzung des gesamten Stadtraums als Artspace führt zu einer kritischen Hinterfragung und Neudefinition der angestammten Orte von Kunstpräsentation (und -definition). In der Folge kam es zu Neugründungen bzw. zur Aufwertung einer Reihe von Ausstellungsorten, Ateliers, Kollektiven und Festivals.
Auf dem Taksim-Platz wiederum zeigte der Choreograph und Künstler Erdem Gündüz als duran adam - der standing man - mit seiner stummen Performance, wie auch der Einzelne auf die exzessive Polizeigewalt reagieren kann - und breite Solidarität, ein mediales Riesenecho und einen deutschen Medienpreis erhält.
Die renommierte Istanbul Biennale hingegen, die in der Vergangenheit öfter vergessene Orte und offspaces in weniger attraktiven Vierteln erschlossen hatte und eigentlich als progressiv und kritisch gilt, verpasste es seltsamerweise, angemessen auf die Ereignisse rund um den Gezi-Park zu reagieren und den Künstlern bei der künstlerischen Eroberung des öffentlichen Raumes zu folgen.
Amin Farzanefar
© Goethe Institut 2014
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de