Das Elend des arabischen Liberalismus
Seit den 1990er Jahren, so die einhellige öffentliche Meinung in den islamischen Staaten, durchleben die Araber die möglicherweise schlimmste Krise ihrer bisherigen Geschichte – eine wahre Heimsuchung Hiobs: Zwischen 1990 und 2015 ist zuvorderst der Irak der US-Besatzung anheim gefallen und somit zu einem gescheiterten Staat verkommen, den sich nunmehr gewalttätige Banden streitig machen. Es ist nur noch schwer vorstellbar, dass sich seine verschiedenen konfessionellen, religiösen und ethnischen Komponenten jemals wieder zu einem einheitlichen Nationalstaat zusammenfügen werden, der nicht länger ausländischen Interessen unterworfen ist.
Ebenfalls zwischen 1990 und 2015 spaltete sich der Süden des Sudan vom Norden ab, in manchen Regionen des Landes tobt bis heute ein Bürgerkrieg. Zudem ist Somalia zusammengebrochen und seither als Nationalstaat in Auflösung begriffen, während Libyen nur noch ein Minenfeld aus sich bekämpfenden Stämmen darstellt, vor deren Küste Boote voller Migranten versuchen dieser Hölle zu entkommen.
Auch Syrien ist in diesen konfliktreichen Zeiten in einen zerstörerischen Bürgerkrieg abgeglitten und droht, in seinem eigenen Elend zu versinken, nach "somalischer Manier" unter dem Terror vollkommen zu zersplittern und in regionale und internationale Einflusssphären zu zerfallen, deren Herren sich für die nationalen Belange des syrischen Volkes und dessen Ambitionen in keinster Weise interessieren.
Und auch der Jemen ist ein weiteres Opfer des regionalen Kräftemessens geworden: Seine nationalstaatlichen Institutionen befinden sich in Auflösung, so dass dort inzwischen ausländische Stellvertreterkriege ausgetragen werden, die das Land immer weiter spalten und die unermesslichen Leiden des jemenitischen Volkes weiter mehren.
Selbst der Libanon wird von einer tiefen Krise erfasst: Das Land versinkt immer mehr in gewaltigen Schuldenbergen und ächzt unter seinen sich auftürmenden Müllbergen. Die Wahl eines neuen Präsidenten schien – jedenfalls bis vor Kurzem noch – als ein Ding der Unmöglichkeit. Und in Ägypten weiß das Al-Sisi-Regime vor lauter Hysterie ob des omnipräsenten Schreckgespensts des Terrors und des Feuerbrands militant-salafistischen Gedankenguts nicht mehr, wie es seine Abermillionen Einwohner noch ernähren soll.
Das kolossale Scheitern der regierenden Eliten
Angesichts all dieser Krisenherde muss es nicht weiter verwundern, dass jegliches Bemühen um Entwicklung in der arabischen Welt weiterhin zum Scheitern verurteilt ist. Hartnäckig halten sich Armut, Analphabetismus und die Unfähigkeit, in Produktivität und Bildung zu investieren, um mit der Moderne Schritt zu halten, während man sich andernorts mutig anschickt, neue Wege in Wissenschaft und Technologie zu gehen.
Was machen stattdessen die Vertreter des arabischen Liberalismus? Sie schauen sich dieses mannigfaltige Trauerspiel enttäuscht, verwirrt und ohnmächtig an, machen den Mangel an Toleranz, Dialogbereitschaft und gegenseitigem Respekt für den Vormarsch radikal-fundamentalistischer Rhetorik und realitätsverzerrender Mythenbildungen verantwortlich.
Sie lamentieren über fehlgeschlagene Reformen, das Auseinanderklaffen der Schere zwischen Arm und Reich, die Auflösung gesellschaftlicher Bindungen sowie das Wiedererstarken des Tribalismus. Sie beklagen den Mangel an ernsthaften nationalstaatlichen Bestrebungen sowie den Niedergang ihrer Kulturen und Zivilgesellschaften.
Arabische Säkularisten diskutieren über das autoritäre Gehabe des Staates, über dessen Einmischung in alles und jedes, seine vollkommene Vereinnahmung der Gesellschaft, den bewussten Entzug von Freiheiten und die Abkehr von der Idee des Gemeinwohls. Sie klagen über den Vormarsch extremistischer und terroristischer Bewegungen, die das Denken der Allgemeinheit zunehmend prägen, nachdem der Staat kein Interesse mehr am Gemeinschaftswohl zeigt und die breiten Massen daher ganz auf sich allein gestellt sind.
Ein elitärer und realitätsfremder Diskurs
Über all diese Faktoren philosophieren heute die arabischen Liberalen aus einer vermeintlich bequemen Position heraus als Vertreter der Eliten ihres Landes, die mit dem gemeinen Volk nicht in Verbindung gebracht werden wollen. Dabei verhalten sie sich so, als hätten sie mit den gesellschaftlichen und politischen Problemen in ihren Ländern überhaupt nichts zu tun. Ein Trugschluss.
Unsere liberalen Eliten ziehen es lieber vor, über die Bekämpfung der Korruption und das Ende der sinnlosen Verschwendung öffentlicher Gelder und über die gerechte Umverteilung der Ressourcen zu schwadronieren. Sie verweisen auf die Bedeutung von Werten wie Rationalität, Toleranz, Dialog und Verhältnismäßigkeit und sehen ein Zusammenwirken von Staat und Zivilgesellschaft bei der Umsetzung dieser Aufgaben als unerlässlich an.
Dabei denken sie vor allem an ein bildungspolitisches Vorhaben, das all diese Werte und Prinzipien verinnerlicht, und an ein umfassendes kulturelles Aufklärungsprogramm zur Verankerung solcher Ideen. An der Verbreitung dieser Ansätze haben aus Sicht der Liberalen im Wesentlichen die Intellektuellen und gebildeten Schichten mitzuwirken, denen die Übernahme dieser aufklärerischen Rolle obliegt, weil nur sie das "Gedankengut entwickeln und weitertragen" können und weil die Kultur das eigentliche Mittel gegen jedwedes "reaktionär-fundamentalistisches Gedankengut" sei – eine Auffassung, der sich übrigens auch alle Religionsgelehrten und Medien fraglos anzuschließen hätten. Ein solches Vorhaben ist jedoch völlig realitätsfern.
Zu solchen utopischen Schlüssen und Empfehlungen kommen übrigens auch die Autoren des jüngst erschienenen Werkes "Zwischen Salafismus und reaktionär-ausgrenzendem Terrorismus – Gedankengut in der Auslegung" des Zentrums für Studien zur Arabischen Einheit, das exemplarisch ist für die Abgehobenheit und Realitätsferne des liberalen Diskurses in der arabischen Welt.
Doch unabhängig von diesen Schwächen besteht wohl das größte Versagen der arabischen Liberalen darin, dass sie sich immer wieder an ein Publikum wenden, das einem gänzlich anti-liberalen Denken verhaftet ist und sich diesem Diskurs grundsätzlich verschließt. Es kann auch gar nicht zusammengehen, dass die liberalen Kräfte einerseits die Rückständigkeit und den Niedergang der arabischen Völker anprangern, andererseits aber versuchen, diesen ungebildeten, verarmten und fundamentalistisch aufgeladenen Massen solche Prinzipien und Werte schmackhaft zu machen - Werte, die sich noch nicht einmal in den westlichen Gesellschaften mit ihren viel tiefer verankerten liberalen Traditionen gänzlich durchgesetzt haben.
Der westliche Liberalismus konnte sich zumindest in all jenen europäischen Gesellschaften durchsetzen, die das abergläubische, rückschrittliche Denken längst hinter sich gelassen und die industrielle Revolution durchgemacht haben. Und den Marxisten gelang es in diesen Gesellschaften das verarmte Proletariat anzusprechen, das ohnehin nichts mehr zu verlieren hatte.
Beide Strömungen konnten in der Folge für ihre jeweiligen politischen Ansichten und Wertevorstellungen massenhaft Anhänger gewinnen - Adepten, die diese Ideen aufgriffen und weiterentwickelten. Wohingegen der arabische Liberalismus auf eigentümliche Weise heimatlos zu sein scheint – ohne Wurzeln, historisch nicht gewachsen und ohne jegliche Perspektive. Darin besteht sein eigentliches Scheitern.
Karam Hilou
© Qantara.de 2016
Der libanesische Autor und Publizist Karam Hilou schreibt für die überregionalen Tageszeitungen Al-Hayat und Al-Arabi al-Jadid.
Aus dem Arabischen von Nicola Abbas