Geht den Hardlinern der Nachwuchs aus?
"Es ist Zeit für das Küssen deiner Lippen, es ist Zeit zum Sexy-Tanz": Der in den USA lebende iranische Pop-Sänger Sasy bringt mit seinem Song "Gentleman" manche Grundschule im Iran zum Beben. Mädchen mit Kopftuch und Jungs in Schuluniform hüpfen und schreien zu den schnellen Rhythmen und haben offensichtlich mächtig Spaß. Selbst Lehrkräfte sind manchmal dabei. Sie dirigieren die Kinder und filmen das Ganze mit ihren Handys.
Dass sie damit die rote Linie des islamischen "Gottesstaats" überschreiten, muss ihnen allen bewusst sein – Tanzen und öffentliches Feiern ist im Iran seit 40 Jahren verboten.
Ob es sich um eine abgesprochene Aktion handelt oder Zufall ist, dass gleich mehrere Schulen das Lied zur Erheiterung ihrer Schülerinnen und Schüler nutzen, ist nicht klar. Die Videos machen jedenfalls seit Anfang Mai im Internet die Runde und haben eine Lawine von Pro- und Kontra-Kommentaren ausgelöst. In den Sozialen Netzwerken wurden bereits Karikaturen dazu veröffentlicht, Menschen außerhalb von Schulen nehmen ebenfalls ihre Tänze zu dem Song auf und posten die Clips.
Beten statt Tanzen
Der für seine frauenfeindlichen Äußerungen bekannte Vizepräsident des iranischen Parlaments, Ali Motahari, dessen Vater einer der Architekten der Islamischen Republik war, verurteilte das Tanzen in den Schulen und forderte die Entlassung der "verantwortungslosen" Lehrkräfte sowie eine Erklärung des Bildungsministers. Auch Parlamentarier verurteilten das "unislamische" Verhalten.
Bildungsminister Mohammad Bathai rief ein dreiköpfiges Gremium zur Aufklärung der Vorfälle ins Leben. "Um die Kinder vor solchen ernsten Schäden schützen zu können, soll in den Schulen ein gemeinsames Gebet abgehalten werden. Eine enge Beziehung zum Koran und der Lebensweise der Imame lässt die Kinder in einer iranisch-islamischen Kultur optimal aufwachsen", wird Bathai von der Nachrichtenagentur Tasnim zitiert, die den Revolutionsgarden nahe steht.
Die neuen Verordnungen des Bildungsministeriums bekräftigen die alten Bestimmungen – nämlich, dass Mädchen und Frauen nicht solo singen dürfen, dass jegliche Teilnahme männlicher Lehrkräfte an Freizeitaktivitäten von Mädchenschulen verboten ist und in allen Schulen ausschließlich "altersgerechte" Lieder gespielt werden dürfen, die sich inhaltlich auf "die kulturellen und historischen Werte und Gebräuche des Iran" beziehen.
Damit ist der Islam gemeint – denn vor der Islamischen Revolution von 1979 waren Tanzen und Tanzmusik im Iran nicht verboten.
Viele rote Linien auf einmal
Die tanzenden Kinder und Jugendlichen überschreiten gleich mehrere rote Linien. Dabei geht es in erster Linie um das Tanzen und die Tanzmusik, außerdem sei der Inhalt des Songs nicht altersgerecht und für Schulkinder gänzlich ungeeignet, monieren die Kritiker. In Sasys Lied geht es um Liebe, Erotik und die Schönheit des Körpers – Tabuthemen in der Islamischen Republik. Deshalb ist der Sänger vor einigen Jahren ausgewandert und lebt seitdem im amerikanischen Exil.
Ein Lied darf aus der Sicht des konservativen schiitischen Klerus keinen "sexuell erregenden Effekt" haben. Mit dieser frei interpretierbaren Formulierung lassen sich die meisten Liebeslieder und Tanzstücke verbieten.
Eine weitere rote Linie sind Solo-Gesänge von Frauen, die von den konservativen Kräften im Iran in keinster Weise geduldet werden. Immer wieder werden bereits genehmigte und ausverkaufte Konzerte teils Minuten vor Beginn abgesagt, weil Musikerinnen auf der Bühne sitzen oder als Backgroundsängerinnen auftreten sollen. In Sasys Song gibt es auch Passagen, die von einer weiblichen Stimme gesungen werden.
Last but not least: Die junge Generation solle nicht solche Leitbilder haben wie den Popsänger Sasy, kritisieren die Hardliner. Sie wünschen sich betende, den Koran rezitierende Kinder, die später ohne zu zögern für die Ideologie ihrer Eltern den "Märtyrertod" sterben.
Doch die Eltern der tanzenden Kinder gehören einer anderen Epoche an. Sie haben die dunkelsten Kapitel der jüngeren Geschichte des Iran an Leib und Seele zu spüren bekommen: die Anfänge der Islamisierung des öffentlichen Lebens, die blutige Verfolgung von Oppositionellen, den Irak-Iran-Krieg (1980 – 1988), die Sanktionen, die internationale Isolierung, den Mangel. Geben sie deshalb ihren Kindern die Freiheit, das Leben zu genießen? Oder ist etwas schiefgegangen bei der "völligen Islamisierung" der iranischen Gesellschaft, die der Anspruch der islamischen Revolutionäre nach 1979 war?
Lebensfreude statt Martyrium
Die tanzenden Kinder seien ein Beweis dafür, dass die "Werte der Revolution" verloren gegangen seien, klagt ein Kritiker. "Mit fröhlichen Kindern kann man Israel nicht vernichten", twittert ein weiterer. Ein anderer Twitter-Nutzer postet einen Film, der kleine Kinder zeigt, die religiöse Klagelieder singen und sich energisch gegen die eigene Brust schlagen. Diese für religiöse Feierlichkeiten im Iran typische Szene wird vom Besitzer des Accounts hoch gelobt.
So legen die tanzenden Kinder die große Diskrepanz zwischen den zwei gegenwärtigen Weltanschauungen im Iran offen: auf der einen Seite die vom Regime propagierte antiwestliche und metaphysische, auf der anderen Seite die offen weltliche, auf lebensbejahende Mehrheit der Bevölkerung.
Und wie verhält sich der von den Hardlinern gescholtene "Übeltäter", der Sänger Sasy, selbst? Er schreibt dem Vizepräsidenten des iranischen Parlaments: "Statt den Wertverlust der iranischen Währung und die Teuerungsrate zu stoppen, beschäftigen Sie sich mit meinem Song!"
Und er lädt schließlich Motahari dazu ein, sich den Song selbst anzuhören. Gewiss werde auch er dazu tanzen, verspricht Sasy.
Iman Aslani