Logik der Macht
Möglicherweise sind auf der einen Seite große Teile der arabischen Regimeeliten zu der Überzeugung gelangt, dass der Arabische Frühling kam und wieder ging, und dass nun alles wieder in geordneten Bahnen verläuft. Veränderungen seien daher nicht mehr erforderlich.
Auf der anderen Seite mussten hunderte friedliche Aktivisten in arabischen Ländern die Lektion lernen, dass ihre Regime im Gegensatz zu partizipativer, interaktiver und von Grundrechten geprägter Staatsbürgerschaft und damit im Gegensatz zur Staatsidee selbst stehen. Sie stellen fest, dass das, was für das arabische Politiksystem gut ist, schlecht für die Staatsidee ist, und dass das, was für den Staat gut wäre, schlecht für ein Regime ist, das Reformen ablehnt.
Vielleicht erklärt dies auch, dass immer mehr Araber, wie es beim IS und bei Al-Qaida der Fall ist, zu den Waffen greifen und damit bewusst oder unbewusst dem Nationalstaat den Kampf ansagen. Es ist zu fragen, was passieren müsste, damit arabische Regime politische und demokratische Reformen einleiten, beziehungsweise ob diese damit wirklich erst warten wollen, bis es zu neuen Zuspitzungen kommt, zu weiteren Revolutionen, zu noch mehr Gewalt, zu Wirtschaftskrisen und einem kompletten Zusammenbruch. Beeindruckt sie tatsächlich nichts von all dem, was schon passiert ist, nur weil sie der Logik der Macht folgen und die Logik der Geschichte verwerfen?
Nur wenige arabische Staaten haben Schritte eingeleitet, die optimistisch stimmen. So hat Marokko seit einigen Jahren in partnerschaftlicher Weise Reformen auf den Weg gebracht, die Beachtung verdienen, und auch in Tunesien ist man nach dem Arabischen Frühling und der Revolution auf einem neuen Weg.
Hier zeigt sich, dass es möglich ist, Reformen umzusetzen, ohne auf jene engen Eigeninteressen und Privilegien zu achten, die die arabischen Regime unfähig machen, den Geist der Zeit aufzugreifen und demokratische Maßnahmen zu beschließen. Teile der arabischen Herrschaftseliten wären zwar zu Reformen bereit, zögern aber, sich den Kräften entgegenzustellen, die für Machtmonopol und elitäre Clanherrschaft stehen.
Die Rückkehr des jakobinischen Schreckensregiments
Die Geschichte hat gezeigt, dass die französische Revolution von 1789 nur deshalb möglich war, weil das französische Königshaus zuvor jahrelang die amerikanische Revolution unterstützt hatte, um damit England zu schwächen. Tatsächlich unterlag England im amerikanischen Unabhängigkeitskampf, aber das royalistische Frankreich blutete wegen seiner genannten Politik wirtschaftlich aus.
Wie Eric Hobsbawm in seinem Werk The Age of Revolution darlegt, war die französische Revolution somit ein Ergebnis der Unterstützung der amerikanischen Revolution gegen die britische Krone. Wir wissen zudem, dass der damalige französische König noch vor der Revolution wirtschaftliche und politische Reformen einführen wollte, dabei aber auf den Widerstand der Aristokratie, des Adels und anderer Privilegierter stieß, die auch angesichts des Volkszorns zu keinerlei Zugeständnissen bereit waren.
Nach der Revolution von 1789 führte die aristokratische Elite Frankreichs ihre Konterrevolution mit deutscher Unterstützung von Deutschland aus. Hobsbawm berichtet von etwa 300.000 französischen Adligen und Fürsten, die nach 1789 nach Deutschland gegangen seien. Ganz Europa bebte in Furcht vor der Revolution und ging in Angriffsstellung. Aber genau diese Konfrontation radikalisierte die französische Revolution noch weiter und führte zu Gewaltexzessen, als die Jakobiner (deren Blutrünstigkeit der von Al-Qaida und dem IS in nichts nachstand) 1792 die Herrschaft übernahmen. Frankreich trat mit den Jakobinern in dieselbe blutige Phase, in der ein Teil der arabischen Welt sich heute als Reaktion auf die Konterrevolution befindet. Und derzeit erleben wir nur deren Beginn.
Keine Bereitschaft zu Machtwechsel, Partizipation und Kompromissen?
Viele arabische Regimevertreter behaupten, die arabischen Gesellschaften seien zu Machtwechsel, Partizipation und Kompromissen nicht bereit. Jedem Beobachter müsste es jedoch Sorge bereiten, dass Völker, die seit über 60 Jahren unabhängig sind, noch immer nicht für Freiheitsrechte, Parteienpluralismus und Demokratie bereit sein sollen. Es ist zu fragen, was die arabischen Regime jahrzehntelang mit ihren Bevölkerungen gemacht haben und was sie jetzt und in Zukunft zu tun gedenken, um zu transparenter und verantwortungsvoller Partizipation zu kommen? Die übertriebene Angst vor Demokratie, Meinungsfreiheit und Machtwechsel wirkt in der arabischen Welt zerstörerisch.
Im arabischen Herrschaftssystem werden wegen der Kurzsichtigkeit und der Dominanz bestimmter Interessen noch immer Oppositionelle eingesperrt. Weil sie ihre Meinung sagen, werden Schriftsteller wegen eines Buches inhaftiert oder Aktivisten zum Tode verurteilt, weil sie demonstriert haben oder ein bestimmtes Gesetz ablehnen. Zeitungen werden boykottiert, Bücher verboten und Freiheiten eingeschränkt. Noch immer hat man in den arabischen Regimen Angst vor Freiheit und Bürgerrechten und führt zugleich eine noch schwierigere Konfrontation: die gegen die zunehmende Gewalt.
Die arabische Welt ist in einem riesigen Mechanismus von Gewalt gefangen, und zugleich sind die Reformer innerhalb und außerhalb der Regime isoliert. Sie treffen auf keine politische Bereitschaft, und es fehlt ihnen an gesellschaftlicher Stärke. Die Gewaltanhänger dagegen – auch diese im Regime und außerhalb – spüren Auftrieb. Sie werden immer mehr und sie sind überzeugt davon, dass die Zukunft der Gewalt gehört.
Ägypten ist nur ein Beispiel dafür. An der Basis der arabischen Gesellschaft weiß man, dass die Eliten korrupt sind, ganz besonders in der Wirtschaft und in der Politik. Aus dieser Szenerie gibt es kein Entkommen, und sie gebiert nichts als Gewalt.
Die neue Qualität des Terrors
Der Krieg gegen den Terror verläuft naturgemäß in Phasen, und seit dem Aufkommen von Al-Qaida und des IS hat er schon viele Etappen durchlaufen. Der IS allerdings steht für eine neue Qualität des Terrors. Die Terrormiliz kontrolliert 45 Prozent des syrischen Staatsgebiets und große Teile des Irak. Sie zieht Steuern ein, macht Gesetze, kurz, sie ist dabei, ein politisches Gebilde aufzubauen. Tatsächlich könnte der IS an seinem eigenen Extremismus scheitern, aber durch ihn sind wir in eine Phase gekommen, in der bewaffnete Gruppen versuchen, eigene Staatsgebilde auf den Trümmern der vorigen zu errichten. Der einzige erfolgversprechende Weg, dies zu verhindern, wären Reformen.
Nichts kann derzeit den Niedergang der arabischen Welt aufhalten. Der Ölpreis ist gefallen und wird kaum wieder auf sein altes Niveau zurückfinden. Dadurch sind auch die reichen Staaten gezwungen, immer mehr Geld aufzuwenden, um ein Mindestmaß an staatlichen Leistungen und Verteidigungsfähigkeit zu erhalten.
Auch wird die Politik hinsichtlich der Entwicklung, des Gesundheitswesen, der Bildung und der Produktion scheitern, solange es in der arabischen Welt keine Partnerschaft mit freien Bürgern gibt, deren Rechte gesetzlich geschützt sind.
Migration ist nicht mehr nur ein Phänomen der ärmeren arabischen Länder, sondern auch Bürger wohlhabenderer Staaten der Region bezweifeln, ob Werte der Staatsbürgerschaft und Gerechtigkeit gegenwärtig und in Zukunft in ihren Ländern durchsetzbar sein werden. Diese Abwanderung ist eine weitere Herausforderung angesichts aufstrebender Nachbarmächte wie Iran und der Türkei und dem Zerfall ehemals führender arabischer Staaten.
Keine politischen und wirtschaftlichen Reformen einzuleiten, ist daher ein sicherer Weg in den Niedergang ganzer Staaten und Länder und ebnet den Weg für noch mehr ausländische Einmischung.
Shafeeq Ghabra
© Qantara.de 2015
Aus dem Arabischen von Günther Orth