Dem Ruf des Einen an die Vielen
Die Internetseite "Rejected Princesses" listet Prinzessinnen auf, denen in einer gerechten Welt längst von von Walt Disney ein Film gewidmet worden wäre. Auf einem der ersten Plätze befindet sich Noor Inayat Khan, die hinreißend schöne Sufiprinzessin, Musikerin, gefeierte Autorin und Widerstandskämpferin gegen das Naziregime. Doch wer war diese Frau, an die in Deutschland wenig mehr als eine Gedenktafel im Krematorium des KZ Dachau erinnert?
Noor-un-Nisa Inayat Khan wird am Neujahrstag 1914 in Moskau geboren. Sie ist die älteste Tochter der Amerikanerin Ora Ray Baker und des berühmten Sufis und Musikers Hazrat Inayat Khans, der zu jener Zeit am Moskauer Konservatorium lehrt. Außerdem ist sie eine Ururenkelin von Tipu Sultan, König des Königreiches Mysore, der drei Kriege gegen die britische Kolonialmacht führte.
Zu Beginn des Ersten Weltkrieges muss die Familie nach London fliehen, wo Noors drei Geschwister Vilayat, Hidayat und Khair-un-Nisa zur Welt kommen. Sechs Jahre später siedelt sie in den Pariser Vorort Suresnes um. Es beginnt ein glückliches Familienleben voller Spiritualität, religiöser Studien und internationaler Begegnungen. Auch nach dem Tod ihres Vaters 1927, nach dem Noor die Verantwortung für ihre Geschwister übernimmt, bleibt das "Fazal Mansil", das "Haus des Segens" eine sichere Heimstatt.
Für die friedvolle Einheit allen Seins
In Paris erhält sie eine Musikausbildung in Harfe und Klavier, unter anderem bei der berühmten Kompositionslehrerin Nadia Boulanger, studiert Kinderpsychologie an der Sorbonne, schreibt Kolumnen für die Kinderseite von "Le Figaro" und veröffentlicht 1939 das Buch Twenty Jataka Tales, eine Sammlung von Lehrgeschichten über frühere Inkarnationen des Buddha Siddhartha Gautama.
Bereits hier entwirft Khan die Grundzüge ihrer Lehre, die um die Bereitschaft kreist, für die friedvolle Einheit allen Seins konsequent einzustehen, und sei es um den Preis des eigenen Lebens. Konsequent machte sie sich daran, alle prophetischen Traditionen und religiösen Kulturen zu erforschen, ihren gemeinsamen Kern freizulegen und Berührungshindernisse zu überwinden.
1940 sieht sich die Familie gezwungen, vor dem nationalsozialistischen Regime nach London zu fliehen. Noor und ihre Geschwister entschließen sich angesichts der Berichte über die unmenschlichen Zustände in den Konzentrationslagern rasch zum Widerstand. Noor wird eine hochspezialisierte Funkerin der "Special Operations Executive" (SOE), einer britischen nachrichtendienstlichen Spezialeinheit. Ihr Bruder Vilayat tritt in die Royal Navy ein.
Während all dieser Zeit schreibt Noor weiterhin Geschichte um Geschichte. Ihr Aufnahmevermögen und ihre künstlerische Kraft sind dabei unerschöpflich. Sie arbeitet sich mit einer Bearbeitung des Chansons de Geste und von Reinecke Fuchs tief in die europäische Literaturgeschichte hinein, erzählt aber auch außereuropäische Geschichten von Sheherazade, dem weisen König Akbar und der indischen Musikerin Mira Bai. Es folgen japanische, russische und polnische Legenden ebenso wie Erzählungen aus dem nordischen und dem griechischen Mythenkreis. Dem Christentum und speziell dem von ihr geliebten Weihnachtsfest sind gleich drei Geschichten gewidmet.
Ein Herz für Helden
Noor zeigt in allen Geschichten ein Herz für Helden, die sich übernehmen und immer wieder über sich selbst straucheln. Gern erzählt sie von moralischemFehlverhalten, und macht gleichzeitig Mut: die Erziehung der Seele hin zur gewissenhaften Bewusstheit ihrer selbst ist ein langer, nie abgeschlossener und immer wieder von Fehlern und Rückschlägen durchsetzter Prozess, der nur mit einer ausreichenden Portion Humor zu überstehen ist.
Noor wird im Juni 1943 vom SOE nach Paris ausgeflogen und unterstützt dort die Résistance, zeitweilig als letzte Funkverbindung zwischen dem französischen Widerstand und den Alliierten. Als Pazifistin lässt sie sich zwar an der Waffe ausbilden, wirft ihre Pistole jedoch noch in England fort.
Noors Bruder Vilayat schreibt in seinen Erinnerungen: "Manchmal frage ich mich, ob diejenigen, die heute ein Leben in Wohlstand führen oder zumindest die hoch zu schätzende politische Freiheit in unseren modernen Gesellschaften genießen, überhaupt realisieren, dass sie dies jenen Menschen verdanken, die für sie gestorben sind und gefoltert wurden."
Gefoltert, missbraucht, gemordet
Der Legende nach wird Noor ihre Schönheit zum Verhängnis. Sie wird von der Schwester eines Agenten verraten, von der Gestapo gefasst und, nach zwei Fluchtversuchen, in ein Gefängnis nach Pforzheim verbracht. Sie wird dort gefoltert, muss qualvollen Hunger leiden und wird vermutlich auch sexuell missbraucht, bevor sie letztendlich ins Konzentrationslager Dachau gebracht wird.
Es ist der 13. September 1944, als SS-Männer Noor Inayat Khan und drei ihrer Kolleginnen vom SOE vor eine Mauer nahe dem Krematorium im Konzentrationslager Dachau führen. Dort warten bereits der Lagerkommandant, Eduard Weiter, und zwei SS-Offiziere. Den Frauen wird befohlen, sich auf den Boden zu knien und an den Händen zu fassen. Eine nach der anderen wird durch Genickschuss getötet. Ihr letztes Wort soll "Liberté" gewesen sein, so Shribanu Basu in ihrer beeindruckenden Biografie "Spy Princess".
Noor Inayat Khan wurde posthum in England und Frankreich mit dem Georges Cross und dem Croix de Guerre geehrt. Im Londoner Gordon Square Garden, wo sie sich oft zum Schreiben und Lesen aufhielt, wurde ihr als bislang einziger asiatischer Frau eine Statue errichtet, die Enthüllung erfolgte durch Princess Royal Anne. Oscarpreisträgerin Helen Mirren lieh Noor in einer Dokumentation über ihr Lebenswerk ihre Stimme. Muslime und Nichtmuslime überall auf der Welt ehren sie als Inbegriff spirituellen Rittertums. Und wer weiß, vielleicht wird es einmal auch ein Denkmal in Deutschland für sie oder eine Disney-Prinzessin nach ihrem Vorbild geben.
Noor Inayat Khan hat sich vor allem von der Verfolgung und dem Massenmord an den europäischen Juden erschüttern lassen. Auf die Frage warum Gott so viel Böses und Schreckliches in der Welt zulassen kann, antwortet sie in ihren Geschichten mit dem höchsten Gut, mit dem ihr Schöpfer sie ausgestattet hat: der Freiheit des Menschen, das Gute zu wählen, in ihren eigenen Worten "dem Ruf des Einen an die Vielen".
Ihre literarische Arbeit und ihr gewaltfreier Widerstand gegen das Nazi-Regime waren für sie gelebte Konsequenz ihres interreligiösen Sufismus.
Eric Schumacher
© Qantara.de 2016
"König Akbar und seine Tochter" - Geschichten aus einer Welt von Noor Inayat Khan, Verlag Heilbronn, 2016, 164 Seiten, übersetzt von Karla Reimert, ISBN 978-3-936246-19-3