Ein Held, der keiner (mehr) sein wollte

Seiner Gestalt eignet noch rückblickend etwas Übermenschliches. Wie kaum ein anderer verkörpert Lawrence aber auch die Verwandlung vom Helden zum Anti-Helden, wie er die Literatur des 20. Jahrhunderts geprägt hat. Ein Essay von Stefan Weidner

Von Stefan Weidner

T. E. Lawrence war keine literarische Gestalt. Er hat wirklich gelebt und wirklich gelitten. Da er schon zu Lebzeiten zum Mythos wurde und er zugleich sein (wenig aufregendes) Privatleben vor der zudringlichen Presse abschottete, ist seine zweifelnde und selbstquälerische Seite einer größeren Öffentlichkeit nie bekannt geworden.

Nachstellungen durch die Presse haben Lawrence das Leben schwer gemacht und ihn zweimal den geliebten Job als einfacher Soldat gekostet. Mehrfach, zuletzt kurz vor seinem Tod, musste Lawrence vor den ihn belagernden Journalisten fliehen wie später Lady Diana.

Wie sie starb Lawrence den Unfalltod durch überhöhte Geschwindigkeit, wenngleich er mit dem Motorrad und vor allem auf der Flucht vor sich selbst im Alter von sechsundvierzig Jahren am 19.5.1935 zu Tode kam.

Trotz der Aufmerksamkeit, die ihm schon zu Lebzeiten zuteil wurde, dürfte T. E. Lawrence einer der wenigen modernen Menschen gewesen sein, die ihrem Ruhm und dem Bild, das sich die Öffentlichkeit von ihnen gemacht hatte, nicht auf den Leim gegangen sind; die sich nicht ab irgendeinem Punkt eingebildet haben, der Ruhm träfe sie zurecht und ein wenig stimme es ja, was über sie erzählt werde.

Der Anti-Held

Auf eine fast schon militant zu nennende Weise war Lawrence uneitel – nicht unbedingt im persönlichen Umgang, dafür umso stärker gegenüber der anonymen Öffentlichkeit. Dies führte unter anderem dazu, dass er, der ein reicher und von den Frauen umschwärmter Mann hätte sein können, ständige Geldsorgen und Zeit seines Lebens keine erotische Beziehung hatte.

In dieser Verweigerungshaltung gegenüber den Medien und den Versuchungen durch Reichtum und Anerkennung ragt er in das nächste, unser, 21. Jahrhundert hinein. Auf umgekehrte, nicht vorhersehbare Weise vollendet sich heute seine Geschichte: Ausgerechnet sein Anti-Heldentum hat das Potenzial, ihn zu einem richtigen Helden, einem Vorbild zu machen. Sein Vermächtnis ist dabei nicht realer, politischer, historischer Natur.

Von dem, was er, wenn überhaupt, politisch im Nahen Osten bewirkt hat, zunächst im Ersten Weltkrieg als britischer Verbindungsoffizier zur arabischen Rebellenarmee gegen die Türken, dann als Berater des Kolonialministeriums unter Churchill auf den Konferenzen zur Neuordnung des Nahen Ostens nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches, ist wenig bis nichts mehr übrig.

Von heute aus betrachtet ist sein Vermächtnis rein ideeller Natur. Es ist das Vermächtnis eines Menschen, der sich konsequent dem Mainstream, den gesellschaftlichen Erwartungen verweigerte, und der, obschon unter offensichtlichen Qualen, sich seine eigenen Wertmaßstäbe, Ziele, Ideale setzte und diese mit einer beinah universalgeniehaften Kreativität auf zahlreichen Gebieten zu verwirklichen suchte.

Ein Kind seiner Zeit

Armeefoto T.E. Lawrences aus dem Jahr 1915
Nur eine tragische Gestalt und eine Schachfigur im Spiel der Großmächte Frankreich und England während des Ersten Weltkriegs? Armeefoto T.E. Lawrences aus dem Jahr 1915

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Lawrence, der leicht hätte reich werden können, übersetzte, um Geld zu verdienen, Homers Odyssee neu aus dem altgriechischen Original ins Englische – eine Übersetzung, die Kennern zufolge heute noch lesenswert ist.

Einer akademischen Karriere als Archäologe im heimischen Oxford zog er bis zum Beginn des Krieges die jahrelange Feldforschung unter spartanischen Bedingungen auf einer syrischen Ausgrabungsstätte vor.

Früh erkannte er die Möglichkeiten der Fotografie für die archäologische Forschung und ließ sich eine eigene Kamera dafür bauen, die heute im Science-Museum in Oxford zu bewundern ist und mit der er seine Ausgrabungen und archäologischen Funde dokumentierte. Im Ersten Weltkrieg, während der von ihm mitkoordinierten arabischen Kampagne gegen die Türken, verdanken wir ihm einige spektakuläre Aufnahmen des Feldzugs und der Wüstenlandschaften der Arabischen Halbinsel.

Mit seiner Begeisterung für die jeweils neusten technischen Entwicklungen war Lawrence ein Kind seiner Zeit, dieser freilich nicht hinterherhinkend und sie nachahmend, sondern ihr immer einen Schritt voraus.

"Il faut être absolument moderne", schrieb der französische Dichter Rimbaud 1870 – Lawrence war es: so absolut modern, dass seine Zeitgenossenschaft zu den italienischen Futuristen kein bloßer Zufall gewesen sein kann. Die Faszination für Geschwindigkeit prägte einen Großteil seines Lebens und setzte ihm ein Ende.

Er fuhr jeweils das neuste und beste Motorrad des englischen Edelmotorradherstellers Brough – sein einziges Hobby, für das er ausnahmsweise auch einmal seine Bekanntheit spielen ließ, wenn das Geld für den Kauf des neusten Modells nicht ausreichte.

In einem der archaischen Bombergeschwader des Ersten Weltkriegs ließ er sich, weil es dann doch schneller ging als die Fahrt mit Zug und Schiff, von England nach Kairo fliegen, unbeirrt von den Beschwernissen und einer Bruchlandung, die die Piloten das Leben und ihn einen Riss im Schlüsselbein kostete.

Später gehörte er einer Air Force-Einheit an, die Schnellboote zur Rettung über dem Meer abgestürzter Piloten entwickelte und testete. Darauf aufmerksam geworden, titelte am 28. August 1932 der Sunday Chronicle: "Oberst Lawrence: Der Mann hinter Großbritanniens Flugzeugen, Autos und Schnellbooten." (Wilson S. 630). Die Reportage war zwar größtenteils erfunden, erfasste jedoch intuitiv einen Wesenszug von Lawrence.

Robert Musil schreibt im Mann ohne Eigenschaften, wie seltsam es doch sei, dass die Menschen den Inbegriff des Heroischen immer noch in einem Reiter sähen, wo doch die Zeit ganz andere Fortbewegungsmittel bereithält.

Nostalgische Inkarnation des klassischen Kriegshelden

Lawrence, für viele Menschen seiner Zeit der Inbegriff, die letzte nostalgische Inkarnation des klassischen Kriegshelden zu Pferd (und Kamel), also eines Heldentypus', der in den Stahlgewittern des Ersten Weltkriegs soeben untergegangen war, dürfte einer der wenigen Menschen seiner Zeit gewesen sein, die die Vorstellungen von Ulrich, dem Mann ohne Eigenschaften, bereits verinnerlicht hatten.

1908, nur ein Jahr, nachdem die erste Tour de France gestartet war und sie das Fahrrad der Weltöffentlichkeit als schnelles und zeitgemäßes Fortbewegungsmittel vorgestellt hatte, machte Lawrence seine eigene Tour de France von Le Havre an der Nordsee bis an die Mittelmeerküste, 3.860 Kilometer, die er in atemberaubenden vier Wochen zurücklegte und deren Hauptzweck (oder Vorwand) eigentlich eine wissenschaftliche Studie über die mittelalterliche Festungsarchitektur in Frankreich war.

Und zu den wenigen Luxusgegenständen, die das einsame, mühselig zum Wohnen hergerichtete Cottage von Lawrence in Clouds Hill aufwies, zählte immer ein gutes Grammofon und eine große Plattensammlung.

Eine andere Schwäche dieses seltsamen Asketen war die Bibliophilie. Vor dem Ersten Weltkrieg wollte er selbst Verleger von Prachtausgaben werden. Sein schriftstellerisches Hauptwerk, "Die Sieben Säulen der Weisheit", erschien ungekürzt in England zu seinen Lebzeiten nur in einer Luxusausstattung mit aufwendigen, vierfarbigen Bildtafeln, unbezahlbar für den gewöhnlichen Leser. Eine normale Ausgabe erlaubte er lange nur für den US-amerikanischen Markt, und brachte sich damit um viel Geld.

Das Zaudern von Lawrence bei der Publikation ist ein Kind seines literarischen Anspruchs. Seinem Selbstverständnis und kühnsten Wunsch nach war er nämlich vor allem Schriftsteller. Die typische Persönlichkeitsstruktur finden wir freilich auch hier: Auch beim Schreiben ist Lawrence der Märtyrer seines eigenen Anspruchs, sozusagen Kafka und Max Brod (der Kafkas Manuskripte entgegen dessen Willen veröffentlichte) in einer Person, eine fast tragisch-komische Schriftstellergestalt, stets an seiner Begabung zweifelnd.

Dass er dann noch seine Aktentasche mit dem ersten, nahezu vollständigen Manuskript der Sieben Säulen im Wartesaal eines Provinzbahnhofs liegenlässt und nie wiederbekommen wird – es erscheint wie die unbewusst-absichtliche Freud'sche Fehlleistung eines Autors, der die Fertigstellung und Publikation seines Hauptwerkes ständig hinauszögerte. Doch sein Klarbewusstsein, sein Wille und die ihm eigene Disziplin obsiegte schließlich: Er schrieb alles noch einmal neu.

Dekonstruktion des Mythos

Kinoplakat Lawrence von Arabien
Mythisch überhöht, medial als kommerzieller Erfolg gefeiert: Die Entstehung des Lawrence-Mythos ist ursprünglich ein Teil der offiziellen Kriegspropaganda gewesen. Die Geschichte wird auch im berühmten Lawrence-Film von 1962 (Regie: David Lean) mit dem großartigen Peter O'Toole als Lawrence angedeutet.

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Der Schriftstellerei von T. E. Lawrence eignet indessen eine weitere Doppeldeutigkeit. Lawrence hatte ein Werk mit dem Titel "Die Sieben Säulen der Weisheit" bereits während seiner Zeit als Archäologe in Syrien geplant.

Der Titel stammt aus den Sprüchen Salomos 9.1., wo es heißt "Die Weisheit baute ihr Haus und hieb sieben Säulen". Intendiert war ein Reisebuch über sieben Städte des Orients, die Lawrence mit Ausnahme Bagdads bereits alle kennengelernt hatte: Konstantinopel, Kairo, Smyrna, Aleppo, Jerusalem, Damaskus, Bagdad.

Als das Buch später unter demselben Titel, aber nun mit den Kriegserlebnissen zum Inhalt, erschien (1926 in der bibliophilen, 1927 in einer gekürzten Volksausgabe in den USA, die Gesamtausgabe erschien erst 1935), galt Lawrence bereits als Berühmtheit und sein Werk war zunächst, ganz unabhängig vom schriftstellerischen Anspruch des Autors, ein Erfahrungsbericht über den Krieg, wie sie damals massenhaft und in unterschiedlichster Qualität publiziert wurden.

Außerdem musste das Werk als eine Art Memoirenliteratur eines Prominenten gelesen werden – es ist schon deshalb keine fiktionale, schöne Literatur, weil es sich mit der unmittelbaren Zeitgeschichte auseinandersetzte, unverhohlen lebende Personen beschrieb und mit diesen, wie Lawrence zurecht befürchtete, in Konflikt geraten konnte (und in Konflikt geriet).

Problematischer war ein anderer Aspekt: Unweigerlich musste ein literarisch und stilistisch noch so ambitionierter Erfahrungsbericht aus der Feder eines mittlerweile weltweit bekannten Kriegshelden an dessen Ruhm mitschreiben und ihn verstärken.

Auch dies ist übrigens etwas zutiefst Modernes: Der Held schreibt sein eigenes Buch, wie es mittlerweile jeder Allerweltspromi tut oder sich schreiben lässt. Freilich, keiner unserer Stars, Helden, Politiker, Promis oder ihrer Ghostwriter schreibt auch nur annähernd so gut wie T. E. Lawrence.

Doch an der problematischen doppelten Lesbarkeit der Sieben Säulen als Kriegsmemoiren und als Literatur ändert dies nichts. Ob absichtlich oder nicht, strickte Lawrence mit diesem Buch an seinem eigenen Mythos weiter. Für ihn selbst dürfte es sich anders dargestellt haben: Er wollte den Mythos richtigstellen, wenn nicht gleich völlig dekonstruieren. Er war ihm, wir haben es erwähnt, zu einer unerträglichen Last geworden.

Die Entstehung des Lawrence-Mythos ist ursprünglich ein Teil der offiziellen Kriegspropaganda gewesen. Die Geschichte wird auch im berühmten Lawrence-Film von 1962 (Regie: David Lean) mit dem großartigen Peter O'Toole als Lawrence angedeutet.

Um die amerikanische Öffentlichkeit – die USA traten ja erst 1917 in den Krieg ein – für die Sache der Alliierten zu gewinnen, schickte das britische Kriegsministerium ein amerikanisches Presseteam nach Kairo, das den Kampf um die Befreiung Jerusalems und des Heiligen Landes von dem mit Deutschland verbündeten Osmanischen Reich dokumentieren sollte.

Eine positive Sicht auf den Krieg schien an diesem Kriegsschauplatz weitaus wahrscheinlicher als in den Materialschlachten der Westfront. Die britische Armeeführung in Kairo kam dann auf die Idee, den Fotografen und seinen Berichterstatter zur arabischen Rebellenarmee und ihrem Verbindungsoffizier T. E. Lawrence zu schicken.

T.E. Lawrence auf seiner Brough Superior; Foto: Copyright erloschen
T.E. Lawrences einziges Hobby, für das er ausnahmsweise auch einmal seine Bekanntheit spielen ließ: Motorradfahren auf der Brough Superior

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Lowell Thomas, wie der Journalist hieß, und sein Fotograf erkannten sofort die mediale Verwertbarkeit von Lawrences Aktionen. Gleichwohl wurde Lawrence in der europäischen Presse erst 1918 nach der Eroberung von Jerusalem durch den britischen General Allenby ein viel erwähnter Mann.

In der Rolle des Nationalhelden 

Er galt seit dieser Zeit zwar als Kriegsheld, ein Mythos und medialer Star wurde er jedoch erst durch das spätere Wirken von Lowell Thomas. Dieser hatte in Form von (nachträglich kolorierten) Dias und kurzen Filmsequenzen das nötige Material vorliegen, um das Verlangen des Publikums nach einer positiven Sicht auf den verlustreichen Krieg zu unterfüttern, indem er einen klassischen Heldentypus vorführte.

Der Lawrence-Mythos ist somit nicht das Produkt einer besonderen militärischen Leistung (so sehr es eine solche gewesen sein mochte), sondern das Produkt eines neuen Mediums, dem Lawrence ironischerweise selbst verfallen war: der Fotografie.

Thomas konzipierte mit dem im Nahen Osten geschossenen Bildmaterial einen Vortrag auf dem neusten Stand der Projektionstechnik. Die Vortragsreihe begann am 14.8.1919 im königlichen Opernhaus Covent Garden. Bereits am 2.10.1919 schrieb der Daily Telegraph: "Mr. Lowell Thomas hat mit seinen Filmen definitiv Lawrence den Stempel des Auserwählten aufgedrückt."

Der Lawrence-Mythos war geboren. Über eine Million Menschen, darunter Mitglieder der königlichen Familie und führende Politiker, besuchten innerhalb von vier Monaten die Vorträge in London. In den darauffolgenden Jahren lauschten nahezu vier Millionen (!) Menschen diesen Vorträgen.

"Der Palästina Feldzug war als der 'letzte Kreuzzug' bezeichnet worden, und in diesem Zusammenhang sah sich Lawrence plötzlich in die Rolle eines Nationalhelden gedrängt", schreibt der Lawrence-Biograf Jeremy Wilson.

Für Lowell Thomas war es eine unerschöpfliche Geldquelle, doch Lawrence ging zu dem Spektakel auf maximale Distanz. Am 10.1.1920 berichtet er an seinen Bekannten A.J. Murray:

"Sie [die Vorträge] sind so widerwärtig wie nur möglich und erschweren mir das Leben sehr, da ich weder das Geld noch den Wunsch habe, meine Dauerrolle als Hochstapler, als den er mich hinstellt, aufrechtzuerhalten. Er [Lowell Thomas] bat mich, seine Fahnen zu korrigieren, aber das war mir ganz und gar unmöglich, da ich noch nicht einmal ein Zehntel hätte durchgehen lassen können. […] Man wüsste wirklich nicht, wo man mit dem Zurechtrücken anfangen sollte." (Zitiert nach Wilson, S. 474).

Verschiedene andere, von Lawrence nicht gewollte, aber durchaus mitverursachte Aspekte verstärkten den Effekt. Zunächst heizte seine generelle Verweigerungshaltung gegenüber der Presse die Gerüchteküche an. Den Interviewwunsch selbst einer seriösen Zeitung wie der Times lehnt er mit folgenden Worten ab:

"Ich fürchte, das Interview kann ich nicht geben. Ich kümmere mich nie darum, was die Leute von mir behaupten oder über mich sagen, aber ich vermeide tunlichst, sie darin zu unterstützen, und ich selbst werde mich dazu nicht äußern. Es ist peinlich, den eigenen Namen in der Presse zu lesen – und trotz der zuvorkommenden Art und Weise, in der Lowell Thomas mich darstellt, wünschte ich sehr, er hätte mich aus seiner Show herausgelassen." (Ebd. S. 476).

Filmszene aus Lawrence von Arabien
Einer der erfolgreichsten Filme seiner Zeit: 1962 kommt das Orientepos "Lawrence von Arabien" mit Peter O'Toole in der Hauptrolle, Omar Sharif und Anthony Quinn in die Kinos.

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Die Neugier der Presse wurde durch Lawrences Geheimnistuerei über seinen weiteren Werdegang verstärkt.

Mit Billigung der Armeeführung trat er 1922 unter falschem Namen als einfacher Fliegersoldat erneut in die Armee ein (im Krieg war er bereits Oberst gewesen).

Als das Inkognito aufflog, überschlugen sich die Gerüchte und im Sommer 1928 wurde er nach Waziristan nahe der afghanischen Grenze in Britisch-Indien versetzt. Als dies durchsickerte, war in den Londoner Evening News am 26.9.1928 die Überschrift zu lesen:

"Lawrence von Arabien in geheimer Mission. Bekämpft Aktivitäten der Roten in Panjab. Tritt als heiliger Mann auf. Bannt den bösen Blick und heilt Krankheiten." (Ebd. S. 603).

Als einige Wochen später tatsächlich ein Aufstand in Afghanistan ausbricht, überschlagen sich die Gerüchte so sehr, dass die Briten gezwungen sind, Lawrence aus dem Grenzgebiet wieder abzuziehen. Tatsächlich war er nie in Afghanistan.

Vielmehr übersetzt er in dem verschlafenen Außenposten Homers Odyssee neu aus dem Altgriechischen – selten dürften Gerüchte so sehr an der Realität vorbeigegangen sein. Als er nach England zurückkehrte, wartete am Hafen bereits ein Pulk von Journalisten auf ihn.

Auch seine spätere Tätigkeit bei der Konstruktion von Rettungsschnellbooten für die Luftwaffe hatte das Zeug, die Gerüchte anzuheizen, wie der zitierte Pressebericht über "Oberst Lawrence, den Geschwindigkeitsexperten der Regierung" zeigt. Und so zynisch es klingt: der frühe Tod Lawrences bei einem Motorradunfall 1935 setzte seinem mythischen Potenzial das i-Tüpfelchen auf. Auf den Bildern von der Beerdigung sehen wir unter anderen Prominenten Winston Churchill.

Selbstzweifel des (Anti-) Helden

Mit dem Zweiten Weltkrieg, der folgenden Neuordnung des Nahen Ostens, die auch die letzten konkreten Wirkungen von Lawrences Arabienfeldzug auslöschte, mit dem Aufkommen neuer Helden und breitenwirksamerer Medien wäre zu erwarten gewesen, dass der Lawrence-Mythos verblasst.

Doch nun führte ein anderes Medium die Legende fort: der Film, genauer der historische Breitwandfarbfilm made in Hollywood, also das Kino in seiner ganzen, heute kaum mehr vorstellbaren Pracht, zu seiner größten Zeit und mit einem gesamtkunstwerkhaften Anspruch.

Ferner mit Schauspielern, die selber inzwischen Mythen sind: Alec Guinness, Peter O'Toole, Omar Sharif, Anthony Quinn. Den Anspruch des Films auf Klassizität macht nichts deutlicher als sein Anfang: Eine fünf Minuten lang schwarze Leinwand wie die Ouvertüre einer Oper, bevor der Vorhang aufgeht.

Unweigerlich wurde mit einem solchen Film der Lawrence-Mythos wiederbelebt und zwar diesmal vor einer noch größeren Öffentlichkeit und in einem haltbareren Medium als in Gestalt der Vorträge von Lowell Thomas.

Die Idee eines Films über Lawrence war allerdings keine Geburt des CinemaScope-Zeitalters. Bereits Anfang der dreißiger Jahre war ein Regisseur auf Lawrence zugekommen und fragte ihn, ob er einverstanden wäre, dass seine Kriegserlebnisse verfilmt werden würden.

Natürlich war er es nicht und wäre es wohl auch später nicht gewesen, wenn er die Entstehung des neuen Films miterlebt hätte, wie es ja ohne seinen verfrühten Tod möglich gewesen wäre. Und doch ist dieser Film unter den populären Darstellungen von Lawrence der genauste und sensibelste.

Es gelingt ihm, nicht gerade typisch für einen Hollywoodfilm, stärker mit Vorurteilen und Mythen aufzuräumen, als sie zu schaffen. Behutsam zwar, aber letztlich unübersehbar zeigt der Film – und sein genialer Hauptdarsteller Peter O'Toole als Lawrence – die Selbstzweifel und das Hadern dieses (Anti-) Helden auf.

Dass es in einem für ein Massenpublikum gedrehten Film möglich war, eine solche Figur als gebrochene, also nicht durchweg und im positiven Sinn mit sich selbst identische vorzustellen, deutet auf den gewachsenen Sinn für das Anti-Heldentum im 20. Jahrhundert hin.

Mochten die meisten Lawrence auch nach wie vor als klassischen Helden sehen, mit einem Mal, anders als noch zu seinen Lebzeiten, war es möglich geworden, auch die Antimaterie dieses Charakters sichtbar zu machen.

Der Lawrence-Mythos hat seither das Potenzial, auch ins 21. Jahrhundert hinein fortzuwirken, freilich in einem ganz anderen als dem ursprünglichen Sinn, nämlich als Mythos der Verweigerung und Entsagung, des Skeptizismus, der Askese – Werte, die in den gegenwärtigen westlichen Gesellschaften keine Anwälte und Medien haben.

Mentalitätsgeschichtlich liegt Lawrences Ethos, seine moralische, vor allem gegen sich selbst gerichtete Strenge bis hin zu seiner sexuellen Askese kurioserweise näher an den Taliban als an den sie bekämpfenden westlichen High Tech-Armeen.

Der enttäuschte Idealist

Und doch war Lawrence zu seiner eigenen Zeit ein waschechter, obschon ziemlich unglücklicher Brite, Außenseiter vor allem deshalb, weil er seine Kultur und Mentalität auf eine fast naive Weise ernst nahm: Er maß sie – und sich selbst – an ihren Idealen: das perfekte Rezept für eine depressive, nie mit sich und seiner Gesellschaft zufriedenen Veranlagung.

Fotoausstellung Lawrence von Arabien
Wenn Lawrence bis heute zur Identifikation einlädt, dann nicht als der medial aufgeblasene Held, als der er uns im 20. Jahrhundert begegnet ist, sondern als der enttäuschte Idealist, schreibt Stefan Weidner.

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Wenn Lawrence bis heute zur Identifikation einlädt, dann nicht als der medial aufgeblasene Held, als der er uns im 20. Jahrhundert begegnet ist, sondern als der enttäuschte Idealist, als der Hadernde, der Ernüchterte, der sein Leben für etwas eingesetzt hat, an das er selbst nur zweifelnd glauben konnte.

Ob sich diese an der realen Person von Lawrence, nicht an den Lawrence-Legenden orientierende Sichtweise durchsetzen kann, ist allerdings fraglich: Das Interesse an der Dekonstruktion der Legende, wie es die Literatur über Lawrence im Westen und in der arabischen Welt prägt, verträgt sich schlecht mit einer rein menschlichen Wertschätzung seiner in vieler Hinsicht tragischen Persönlichkeit.

Als Antiheld ist Lawrence im übrigen mehr als lediglich ein negativer, scheiternder Held. Er ist vor allem der missverstandene, falsch gedeutete Held, einer, der sich mit seiner Rolle nicht identifizieren kann und der nicht ist, was er scheint. In diesem Bruch zwischen Schein und Sein liegt meines Erachtens das entscheidende Merkmal einer solchen Gestalt.

Die Voraussetzung für diesen Bruch ist das Auseinanderdriften von Zeichen und Bezeichnetem, in diesem Fall vom scheinbaren Inhalt des Heldentums oder Mythos und dem, was der Held und Gegenstand dieses Mythos selbst empfindet. Bedingung für diese Aufspaltung zwischen beiden ist in diesem Fall nicht so sehr die Wirklichkeit des Krieges, sondern seine Aufbereitung und Darstellung.

Es ist, mit einem Wort, die (massen-) mediale Entwicklung, die bewirkt hat, dass sich das Bild (oder das Gerücht, der Mythos) zunehmend als Bild selbständig macht, ohne Rückkopplungseffekte oder eine irgendwie reale Beziehung zum Abgebildeten selbst, die dieses gerecht repräsentieren könnte.

Die Repräsentation, im Bild, im Wort, im Diavortrag wie im Fall von Lawrence, verselbständigt sich und hat nur noch einen behaupteten Bezug zum Repräsentierten.

Im Fall von Lowell Thomas' Vortragstätigkeit wird dies überdeutlich. Die von Thomas transportierte Aussage über Lawrence entsprach mehr den Wünschen und Vorstellungen seines Publikums – zumal nach der Heldenzerstörungsmechanik des ersten Weltkriegs –, als dass sie irgendetwas mit Lawrence selbst zu tun hatte.

Dessen eventuell bis 1917 noch vorhandenes, mit sich selbst identisches, von sich selbst überzeugtes Helden-Ich wurde spätestens während der Auspeitschungen zunichte gemacht, von denen er in den Sieben Säulen so eindrucksvoll berichtet.

Zerissenheit des ganzen Ichs

Auf einer Erkundungstour in dem von den Türken beherrschten Eisenbahnknotenpunkt Deraa in Syrien, war er gefasst worden. Zum Glück für ihn wurde er nicht erkannt. Doch während der Verhörfolter mit der Peitsche erfuhr er, wie er schrieb, ein "allmähliches Auseinanderbrechen seines ganzen Ichs" (Seven Pillars of Wisdom, New York 1935, S. 444).

Spätestens seit diesem Zeitpunkt war er innerlich ein zerrissener Mensch, und jede Verherrlichung seiner Person musste von ihm als falsch empfunden werden.

Das Wadi Rum - Foto von Boris Becker aus seiner Ausstellung
Die Bilder Beckers verzichten darauf, etwas Verbindliches über das Abgebildete auszusagen, so präzise und gleichsam objektiv sie erscheinen. Sie nehmen uns die Interpretation nicht ab, sondern fordern sie heraus. Ich glaube, T. E. Lawrence hätte sich in ihnen wiedergefunden, schon aus dem einen Grund, weil er darin nicht zu sehen ist, schreibt Weidner.

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Die Aufspaltung von öffentlicher Erscheinung und wahrem Charakter, von Bild und abgebildetem Gegenstand ist freilich bei jeder Art medialer Repräsentation am Werk, die etwas anderes bezwecken würde, als nach Art eines Kunstwerks für sich selbst zu stehen.

Das gilt zumal für jede bildliche oder filmische Darstellung der arabischen Welt.

Mediale Zerrbilder

Die abendländischen Klischees haben in diesem Fall seit jeher die Realität überlagert, oft gar nicht aus bösem Willen, sondern weil die mediale Darstellung von Realität umso mehr wie eine Datenreduktion wirkt, je fremder und entfernter ihr Gegenstand ist, soll heißen, je weniger wir die zwangsläufig lückenhafte Repräsentation durch unsere eigene Anschauung zu ergänzen in der Lage sind. Die Berichterstattung über die diversen Nahostkonflikte im TV sind der beste Beleg dafür.

Die im Katalog wiedergegebenen Fotos von Boris Becker gehen indessen den umgekehrten Weg wie die Massenmedien, weil sie die vorgefundenen Spuren von Lawrence von Arabien nicht auf eine vorgefertigte Vorstellung oder die vom Lawrence-Mythos provozierte Erwartungshaltung reduzieren, sondern weil sie diesen Spuren eine Art von Sprachlosigkeit und Interpretationsfreiheit wiedergeben.

Wie der unfreiwillige Held Lawrence sich der Öffentlichkeit und ihrer voreiligen Deutung seines Charakters entzog, so entziehen sich diese Fotografien einer vorgängigen Erwartung. Was für den Menschen T. E. Lawrence jedoch tragisch war, nämlich die durch seine Verweigerung provozierte Gerüchteküche, erscheint bei den Lawrence-Fotos von Boris Becker als die Stärke einer Deutungsoffenheit, die zu Interpretationen einlädt, ohne sie vorzugeben.

Die Bilder verzichten darauf, etwas Verbindliches über das Abgebildete auszusagen, so präzise und gleichsam objektiv sie erscheinen. Sie nehmen uns die Interpretation nicht ab, sondern fordern sie heraus. Ich glaube, T. E. Lawrence hätte sich in ihnen wiedergefunden, schon aus dem einen Grund, weil er darin nicht zu sehen ist.

Aber vielleicht ist es möglich, das noch präziser zu sagen: Lawrence ist aus diesen Bildern verschwunden, aber wie alles Verschwundene ist er als abwesendes Element in der Unsichtbarkeit irgendwo doch vorhanden.

In der anwesenden Abwesenheit von Lawrence auf diesen Bildern erfüllt sich damit auf zeitgemäß aufgeklärte Weise eine alte Hoffnung aus den Anfängen der Fotografie: Die Geister der Verstorbenen sichtbar machen zu können.

Stefan Weidner

© Fikrun wa Fan / Goethe-Institut 2011

Stefan Weidner lebt als Autor, Übersetzer aus dem Arabischen und Literaturkritiker in Köln und Berlin. Zu seinen Buchveröffentlichungen zählen "Mohammedanische Versuchungen", die Reiseerzählung "Fes" und die Streitschrift "Manual für den Kampf der Kulturen. Warum der Islam eine Herausforderung ist".

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de