Der türkische Journalismus ringt nach Luft
Türkische Journalisten ringen nach Luft, um überleben und arbeiten zu können, sie kämpfen gegen die völlige Erstickung. Das gilt vor allem für diejenigen, denen es wirklich um die Würde, Integrität und die Rolle ihres Berufs für das öffentliche Interesse geht. Der Journalismus in der Türkei steht auf zwei Ebenen unter Druck: Während sich die Zensur auf verschiedenen Wegen verschärft, nimmt auch die Selbstzensur zu. Zusammen lähmen sie das Berichten und Kommentieren.
Seit den Gezi-Protesten wurden bei Korruptionsermittlungen oder dem "Islamischen Staat" zugeschriebenen Anschlägen mehr als 40 mal Nachrichtensperren verhängt, um die Öffentlichkeit vor den Tatsachen abzuschirmen. Die Ablehnung von Akkreditierungsanträgen wurde zur täglichen Praxis. Kritische Zeitungen bleiben von Turkish-Airlines-Maschinen und Flughäfen ebenso ausgeschlossen wie von Behörden. Die türkische Rundfunkaufsicht RTUK arbeitet als wichtigste Zensurbehörde und verhängt immer wieder Strafen gegen Fernsehsender.
Schon die Drohung reicht
Die Inhaftierung von Journalisten ist zwar nicht an der Tagesordnung, die Drohung damit allerdings schon. Die Zahl der rechtlichen Anfragen und Gerichtsklagen gegen Journalisten, Blogger und Twitter-Nutzer, meist wegen angeblicher "Beleidigung" von Staatspräsident Erdoğan, sind in die Höhe geschossen. In einigen Fällen stehen Kollegen vor langen Haftstrafen.
Nach Angaben der Organisation "Reporter ohne Grenzen" verbüßen in der Türkei gegenwärtig etwa 20 Journalisten Haftstrafen. Auch wenn die Zahl der Inhaftierungen abnimmt, ist doch die Art der jüngsten Fälle äußerst beunruhigend, vor allem die von Nedim Şener, Ahmet Şik und anderen. Hidayet Karaca, Chef des Fernsehsenders "Samanyolu", war im Dezember wegen Terrorverdachts festgenommen worden und sitzt seitdem in Untersuchungshaft.
In einem ähnlich schwerwiegenden Fall wurde Mehmet Baransu, ein Enthüllungsjournalist der unabhängigen Tageszeitung "Taraf", festgenommen. Ihm wird vorgeworfen, "sich geheime Staatsunterlagen beschafft" zu haben. In Regierungskreisen wird er als "Spion" bezeichnet. Beide Fälle drohen, zu Präzedenzfällen zu werden und dadurch den Journalismus noch weiter zu lähmen.
Angst vor der Entlassung
Selbstzensur ist in der Türkei inzwischen normal geworden, sie ist heute Teil der beruflichen Kultur und eine schlimme Form der "Selbstinhaftierung". Die Selbstzensur findet in Medienkonzernen von Moguln statt, die für ihre verzweigten Geschäftsinteressen vom Segen der Regierung abhängen und deren Redaktionen sich in Freiluftgefängnisse verwandelt haben. Dort sorgen Chefredakteure mit gutem Gehalt dafür, dass Geschichten mit wirklichem Nachrichtenwert blockiert werden und Reporter und Kolumnisten einen regierungsfreundlichen Journalismus praktizieren.
Diejenigen, die sich dem widersetzen, werden systematisch gefeuert. Da nur 1,5 Prozent der türkischen Journalisten mutig genug sind, einer Gewerkschaft beizutreten, existiert journalistische Unabhängigkeit praktisch überhaupt nicht, denn die Angst, Einkommen zu verlieren, ist größer als die Angst, verklagt oder verhaftet zu werden.
Insgesamt haben wir es heute mit einer Situation zu tun, in der 80 Prozent der Medien von der Regierung kontrolliert werden und nicht in der Lage sind, das zu verinnerlichen, was die Werte des Journalismus ausmachen, zu berücksichtigen. Und das ist ein alarmierendes Zeichen.
Yavuz Baydar
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