Interview mit Can Dündar: "Eine Form von Hexenjagd in der Türkei"
Glauben Sie, dass Sie bald in die Türkei zurückkehren können?
Can Dündar: Das hängt davon ab, ob die Regierung den Ausnahmezustand aufrecht erhält. Und es hängt von der Opposition ab, dem Widerstand der Menschen gegen dieses antidemokratische Vorgehen und von der Haltung der Welt, von Europa insbesondere, ob sie es der Regierung erlauben, so weiterzumachen. Erdogan hat keine Opposition im Parlament. Er ist jetzt in einer viel stärkeren Position unter den europäischen Staatschefs als vorher, er wird seine Politik nicht ändern.
In der vergangenen Woche ging der Prozess gegen Sie weiter, diesmal wegen Unterstützung einer Terrororganisation, womit rechnen Sie?
Dündar: Ich habe eine Geschichte geschrieben für meine Zeitung, es war eine wahre Geschichte über eine illegale Aktion des türkischen Geheimdienstes. Also hätte ich nicht vor Gericht müssen. Aber es ist ein schmutziges Geheimnis für die türkische Staatsmaschinerie. Deswegen hat man mich ins Gefängnis gesteckt.
Wie unabhängig ist die Justiz in der Türkei?
Dündar: Das Justizsystem ist Tag für Tag abhängiger von der politischen Macht, besonders von der AKP, das ist eine sehr gefährliche Entwicklung.
Wie sind die Arbeitsbedingungen von Journalisten wie Ihren Kollegen bei "Cumhuriyet"?
Dündar: Sehr schwer. Wenn man nicht für die Regierung ist, ist man als Journalist entweder im Gefängnis oder im Gerichtssaal. Erdogan hat in den vergangenen Jahren abhängige Medien geschaffen, er kontrolliert jetzt rund 40 Prozent der Medien - Zeitungen und Fernsehsender. Höchstens 10 Prozent sind linke, kemalistische oder kurdische Zeitungen. Und sie sind unter sehr starkem Druck. Das gilt auch für meine Zeitung. Wir müssen einen hohen Preis bezahlen, der Preis ist, fast jeden Tag im Gerichtssaal zu sein, mehr Zeit im Gerichtssaal zu verbringen als in der Redaktion. Und Zensur, Selbstzensur und Drohungen, nicht zuletzt in den sozialen Medien.
Wird die Situation so bleiben?
Dündar: Erdogan möchte, dass es für immer so bleibt. Aber ein Land wie die Türkei mit 80 Millionen Einwohnern und einer säkularen Geschichte und 50 Prozent der Menschen, die gegen Erdogans Aggression sind, ist nicht einfach wie ein Dorf zu regieren. Unglücklicherweise gibt es im Moment eine große Stille wegen der Angst. Die Menschen sind geschockt, durch das, was in den vergangenen Monaten passiert ist.
Fethullah Gülen sagt, Erdogan sei verantwortlich für den Putsch im Juli. Was denken Sie darüber?
Dündar: Ich sehe das als einen Kampf zwischen zwei islamischen Gruppen. Das hat nichts mit uns zu tun. Sie waren Partner, sie haben das Land jahrelang Hand in Hand regiert, sie haben den Staatsapparat erobert. Wir waren gegen sie, wir haben die Regierung vor der Gefahr so einer religiösen Kraft im Staatsapparat gewarnt. Dann haben sie sich getrennt. Und nun hat Erdogan sie zum größten Staatsfeind erklärt. Es ist so ironisch, dass er nun die gesamte Opposition zu Gülen-Anhängern erklärt, uns eingeschlossen. Das muss ein Witz sein.
Man wirft Ihnen vor, Sie hätten Verbindungen zur Gülen-Bewegung.
Dündar: Ja, das ist komisch. Wenn jemand kritisiert werden müsste als Gülenist, dann ist es Erdogan. Man nennt das Projektion in der Sozialpsychologie, etwas Falsches bei einem selbst anderen vorzuwerfen. Es ist wirklich lächerlich, ich habe Gülen nie getroffen, ich habe keine Verbindung zu ihm gehabt. Ich habe nur vor ihm gewarnt. Es ist eine Frankensteingeschichte: Erdogan hat ein Monster geschaffen, und das Monster hat ihn angegriffen.
Warum bekämpft die türkische Regierung so viele verschiedene gesellschaftliche Gruppen, nicht nur die Gülen-Bewegung?
Dündar: Erdogan benutzt die Situation, um jede Opposition gegen sich loszuwerden, Akademiker, Sozialisten, Kurden, das ist gefährlich, es ist eine Form von Hexenjagd.
Wie sehen Sie die langfristige Perspektive für die Türkei?
Dündar: Es ist ein Land voller Überraschungen. Vor drei Jahren gab es die Taksim-Bewegung. Es wurde der größte Aufstand der türkischen Geschichte. Niemand hatte das erwartet. Millionen haben gegen die Regierung protestiert, die die Proteste mit Polizeigewalt niedergeschlagen hat.
Und heute?
Dündar: Die Protestbewegung ist im Moment desorganisiert, schwach und leidet. Aber 50 oder 60 Prozent der Gesellschaft sind gegen Erdogan. Doch die EU hat den Fehler gemacht, die Türkei zu lange auf der Warteliste zu lassen. Und als Letztes zu nennen ist dieser schmutzige Deal zu den Flüchtlingen. Um die Flüchtlinge zu stoppen, hat man Erdogans Unterdrückungspolitik akzeptiert. Für türkische Demokraten war das eine große Enttäuschung. Aber die Türkei ist das einzige demokratische und säkulare Land in der islamischen Welt. Wenn die Türkei scheitert, wäre das nicht nur eine Katastrophe für die Türkei, sondern auch für Europa.
Wann haben Sie Ihre Frau zuletzt gesehen?
Dündar: Vor drei Monaten in Spanien, sie hat mich dort besucht, ich habe mein Buch zu Ende geschrieben, das war noch vor dem Putsch. Ich wollte im August zurückgehen, aber seitdem hat sich alles geändert. Ich habe entschieden, länger zu bleiben und zu beobachten, was passiert. Als sie vor kurzem nach Deutschland kommen wollte, ist sie in der Türkei aufgehalten worden.
Man will nicht, dass sie das Land verlässt, warum?
Dündar: Das sind Mafia-Bestrafungsmethoden. Sie wollen mich auf diese Weise bestrafen. Sie ist nicht der einzige Fall, viele Familien werden von der Regierung als Geiseln genommen, das ist völlig illegal. Aber während des Ausnahmezustands können sie alles machen, was sie wollen. (dpa)
Interview: Andreas Heimann
Can Dündar wurde 1961 geboren und studierte Journalismus in Ankara und London. Er ist promovierter Politikwissenschaftler und arbeitete für Fernsehsender und verschiedene Zeitungen in der Türkei und schrieb eine Reihe von Büchern, zuletzt "Lebenslang für die Wahrheit." Bis zu diesem Sommer war er Chefredakteur der regierungskritischen Zeitung "Cumhuriyet". Im November 2015 wurde er verhaftet und war drei Monate im Gefängnis. Nach einer Entscheidung des Verfassungsgerichts kam er zunächst frei, sein Prozess wird allerdings fortgesetzt.