Revolution aus der Wüste?
Immer größer wird der Druck, der auf der fragilen Stabilität und dem alten politischen System in Algerien lastet. Und immer neue Faktoren kommen hinzu, die diesen Druck auf die autoritäre Führung erhöhen: der niedrige Ölpreis, die chaotischen Zustände in Nachbarländern und Grenzgebieten, die immer wieder aufflammenden Unruhen zwischen Arabern und Berbern, die große Kluft zwischen prosperierender Küstenregion und strukturschwacher Peripherie. Aus Schiefergas könnte der Tropfen bestehen, der nun das Fass zum Überlaufen bringt.
Seit über einem Jahr schon schwelen ethnische Konflikte im Süden des Landes in Ghardaïa, seit Anfang 2015 kommen Streiks und Massenproteste gegen Frackingprojekte in der Wüstenstadt Ain Salah hinzu.
Gegen die Schiefergasförderung gab es spätestens seit den ersten Probebohrungen Ende Dezember 2014 massiven Widerstand – so massiv, dass die Führungsriege des FLN (Front de Libération Nationale) bereits einen Arabischen Frühling für Algerien befürchtete. Die Protestierenden, darunter viele Frauen, skandierten Parolen, die Reminszenzen weckten an die Arabellion, die sich dieses Mal jedoch gegen weitere Bohrungen richteten.
Wer profitiert vom Fracking?
"Man darf die Wut der Bevölkerung aus dem Süden nicht unterschätzen", mahnte denn auch Generalsekretär Saadani. Gleichzeitig suggerierte er, dass "ausländische Kräfte" (gemeint war insbesondere Frankreich) hinter den Protesten stecken und gezielt aufwiegeln würden, um eine Revolution aus der Wüste loszutreten. Die Unterstellung scheint absurd, dürfte doch vor allem Frankreich von den Schiefergasprojekten auf algerischem Boden profitieren, weiß auch Saadani.
Der algerische Ministerrat hatte im Mai 2014 die landesweite Förderung von Schiefergas durch Fracking genehmigt, ohne das Parlament zu konsultieren, Experten anzuhören, die Öffentlichkeit in die Entscheidung mit einzubeziehen oder wenigstens ausreichend zu informieren.
Dahinter steht ein Deal des algerischen Öl- und Gas-Monopolisten "Sonatrach" mit europäischen Unternehmen, in deren Ländern Fracking aufgrund der unabsehbaren ökologischen und gesundheitlichen Folgen verboten ist. Firmen wie der französische Mineralölkonzern "Total" weichen aus diesem Grund einfach auf andere Territorien aus.
Rentierstaat Algerien
Algerien beutet bereits seit Anfang der 1970er Jahre im großen Stil seine riesigen Erdgas- und Erdölvorräte aus, sie machen heute geschätzte 98 Prozent der Exporte aus. Der niedrige Ölpreis, der in vielen Ländern eher für wirtschaftliche Begeisterungsstürme sorgte, hat das Land daher an den Rand einer Wirtschaftskrise gebracht. Die Förderung von Schiefergas würde dem Rentierstaat eine neue Einnahmequelle erschließen.
In Algerien liegt nach Informationen des "World Resources Institute" das drittgrößte Schiefergasvorkommen weltweit nach China und Argentinien. Warum also wehrt sich die Bevölkerung nun genau dagegen, hat sie doch bisher die algerische Art der Wirtschaftspolitik eher geduldig hingenommen? Weil sie – wie sooft zuvor – vor allem nur die Nachteile zu spüren bekommt. Und davon gibt es viele.
Unabsehbare Folgen für Umwelt und Gesundheit
Ein Gemisch aus Wasser und Chemikalien wird beim Fracking in bis zu fünf Metern Tiefe horizontal mit Hochdruck in die gasführende Gesteinsschicht gepresst. Die Bestandteile des Gemischs wurden durch verschiedene Gutachten (z.B. vom Bundesumweltamt von 2014 und 2012) als giftig, umweltgefährlich, gesundheitsschädlich, reizend oder ätzend eingeschätzt. Der Frackingcocktail bleibt nach erfolgreicher Gasförderung zum Teil einfach im Boden, ein weiterer Teil kommt zurück an die Oberfläche. Niemand weiß, was dann mit der Flüssigkeit geschieht. Sie könnte ins Grundwasser oder sonst in die Umgebung gelangen und von dort von Mensch und Tier aufgenommen werden.
Was in europäischen Ländern wie Frankreich aus diesen Gründen verboten ist, soll im Süden Algeriens möglich sein. Unternehmen wie die französische "Total" profitieren von der Gesetzeslage in Ländern, die es mit den Menschenrechten nicht so genau nehmen. Und nutzen diese als Experimentierflächen.
Dieser ökonomische und soziale Umgang mit Ländern wie Algerien hat Tradition und ist ein umso heikleres Thema: Während und nach der Kolonialzeit hatte Frankreich Atomtests auf algerischem Gebiet durchgeführt, nicht weit entfernt von der aktuellen Projektfläche. Kernwaffen viermal so stark wie die Bombe, die auf Hiroshima fiel, wurden in den 1960er Jahren sowohl über- als auch unterirdisch gezündet. Die verheerenden Langzeitfolgen solcher Tests für Lebewesen und Umwelt sind gemeinhin bekannt.
Intellektuelle wie Michel Foucault debattierten damals über den Status der Kolonien als "Heterotopien", "Gegen-Orte" also, die Kolonialmächten wie Frankreich das ermöglichten, was in der eigenen Gesellschaft und auf dem eigenen Boden nicht möglich war.
Wasserverschwendung in einer Region mit chronischem Wassermangel
Für Fracking werden große Mengen Wasser aufgewendet. Doch wo hernehmen in einer Region, in der Wasser zu den knappsten Gütern zählt? Für den täglichen Bedarf der Menschen bleibt dann noch weniger übrig. Durch die Kontamination von Süßwasserdepots mit giftigen Substanzen würde insbesondere für die Landwirtschaft Wasser fehlen, also genau dort, wo ohnehin schon ein großer Mangel besteht. Die algerische Wirtschaft ist durch das Exportgeschäft mit Erdöl und –gas so gut wie nicht diversifiziert, sondern verlässt sich vollends auf die Mineralöleinnahmen. Das heißt aber auch, dass fast alle Lebensmittel importiert werden müssen, weil im verkümmerten Agrarbereich Knowhow und Technologien fehlen, um sie selbst herzustellen. Wasser ist in Algerien so wertvoll, dass es ein eigenes Ministerium für das "blaue Gold" gibt.
Gelder, die in das Fracking fließen, verdrängen darüberhinaus dringend benötigte Investitionen in die Infrastruktur. In der algerischen Peripherie der Sahara ist der Staat weitestgehend abwesend, wenn es darum geht, Wasser, Strom, medizinische Versorgung, Ausbildung oder Arbeitsplätze sicherzustellen.
Auf den Plakaten der Protestierenden lässt sich daher lesen: "Ja zur Solarenergie, Nein zum Fracking". Doch für erneuerbare Energien gibt der algerische Staat kaum Geld aus. Ganz im Gegensatz zum Nachbarland Marokko: Das Königreich im Westen investiert schon seit einiger Zeit in grüne Energien und baut als Wüstenanrainer vor allem den solarthermischen Bereich aus.
"Wir leben auf einem Vulkan"
Der laxe Umgang mit der Gesundheit und Umwelt der Bevölkerung könnte dem Regime in Algier womöglich langfristig zum Verhängnis werden. Ohnehin steht die Macht des Staates immer mehr auf tönernen Füßen. Die überalterte Regierung der FLN-Garde, die ihre Legitimität noch aus dem Unabhängigkeitskampf gegen Frankreich bezieht, hat ihre Verjüngung versäumt. Präsident Bouteflika ist schwer krank, ein Nachfolger nicht in Sicht.
Getragen wird das System von der sogenannten "Trabendo"-Mittelschicht, die von der informellen Wirtschaft und vom Fehlen politischer und ökonomischer Spielregeln lebt. Hinzu kommen die chaotischen Zustände fast aller umliegenden Staaten. Vor allem Libyen exportiert seine islamistischen IS-Terroristen in die Grenzregionen, aber auch in Südtunesien und den Saharagebieten an der Grenze zu Mauretanien, Mali und Niger finden sich Ableger. Fast täglich veröffentlicht das Verteidigungsministerium Meldungen über ausgehobene Terrorzellen.
Auch noch nicht entschieden ist der Kampf der Tuaregrebellen des separatistischen MNLA, die der Regierung Kopfzerbrechen bereiten. Vielleicht noch stärker als Libyen verfügt Algerien als größtes Land auf dem afrikanischen Kontinent über eine riesige, heterogene und schwer zu kontrollierende Fläche. "Wir leben auf einem Vulkan", gab denn auch kürzlich der algerische Schriftsteller Boualem Sansal das algerische Lebensgefühl wieder.
Susanne Kaiser
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