Kampf um Macht und Anerkennung
Sie fühlen sich diskriminiert, sozial benachteiligt, politisch marginalisiert und fürchten den Verlust ihres Landes durch die ständig wachsende Zahl von Neusiedlern. Die Rede ist nicht von Palästinensern im Westjordanland oder in Ostjerusalem, sondern von der Volksgruppe der Mozabiten in Algerien. Sie steht im Zentrum eines seit Jahrzenten schwelenden Konflikts, der seit Ende des letzten Jahres in offene Gewalt umgeschlagen ist und von dem niemand so genau sagen kann, ob er ethnische, religiöse oder soziale Ursachen hat.
Ghardaia ist die Hauptstadt des 600 Kilometer südlich von Algier gelegenen Mzab-Tals, Tor zur Sahara und Schauplatz der schweren Unruhen, im Zuge derer Geschäfte und Wohnungen geplündert und angezündet, Friedhöfe und Heiligtümer geschändet und Jahrtausende alte Mausoleen zerstört wurden. Regelmäßig kommt es zu bewaffneten Auseinandersetzungen, bisweilen sogar zu Lynchmorden, zwischen zumeist jungen Männern der Mozabiten auf der einen und der Chaamba auf der anderen Seite.
Es geht um Land, Wohnraum, Wasser, Zugang zu Ämtern, Institutionen und Privilegien, um Arbeitsplätze und Integration. Die katastrophal hohe Jugendarbeitslosigkeit und die sich ständig verschlechternde wirtschaftliche Situation tragen zu den Spannungen bei.
Mozabiten und Chaamba im Zwist
Die Mozabiten zählen zu den als berberisch oder amazighisch bezeichneten Bevölkerungsgruppen Algeriens – beide Bezeichnungen sind problematisch und werden nicht von allen Mitgliedern der ethnischen Minderheiten als zutreffend anerkannt. Sie gehören zur religiösen Minderheit der Ibaditen und sind traditionell als Händler im Mzab ansässig, wo sie auch die Mehrheit bilden.
Die Chaamba verstehen sich hingegen als Araber, sind Anhänger der malikitischen Rechtsschule und waren Beduinen, die überwiegend von der Kamelzucht lebten, bis die Kolonialpolitik und nach der Unabhängigkeit 1962 auch die algerische Politik unter Boumedienne sie zur Sesshaftigkeit zwang und im Mzab ansiedelte.
Beide Gruppen werfen sich gegenseitig die Marginalisierung durch die jeweils andere Volksgruppe vor: Die Mozabiten verhinderten mit ihren ausgrenzenden sozialen Strukturen und eigenen Schulen, Moscheen und Friedhöfen die Integration der Chaamba in ihre Gemeinschaft, mit denen sie nichts zu tun haben wollten.
Die Chaamba werden ihrerseits als Emporkömmlinge wahrgenommen, die als Araber vom algerischen Staat bevorzugt würden und so einen leichteren Zugang zu Ämtern in der Verwaltung und zu Wohnraum hätten. Die Mozabiten fühlen sich durch den Bau immer neue Dörfer und Stadtviertel von arabischen Neusiedlern systematisch verdrängt und in ihrer Identität bedroht.
"Die arabische Bevölkerung tritt ethnischen Minderheiten grundsätzlich mit einem Überlegenheitsgefühl entgegen", erläutert der Afrikareferent Ulrich Delius von der "Gesellschaft für bedrohte Völker" gegenüber Qantara.de. Dies sei die Folge von 50 Jahren Arabisierungspolitik, die dazu geführt habe, dass Algerien von arabischer Seite nicht als Vielvölkerstaat wahrgenommen würde, in der auch berberische Gemeinschaften einen Platz hätten, sondern als rein arabische Nation.
"Es gibt keine Berber im arabischen Maghreb"
Die nationalistische Arabisierungspolitik und Marginalisierung der Berber hat über die Grenzen Algeriens hinaus Tradition. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts und der Unabhängigkeit von den Kolonialmächten haben die Staaten im Maghreb sie mit unterschiedlicher Intensität betrieben. Sie ist vor allem als Reaktion junger Nationalisten auf den Versuch der französischen Kolonialisten zu verstehen, die Bevölkerung nach dem Divide-et-Impera-Prinzip ("Teile und herrsche") zu spalten.
In Marokko wurde 1930 von der Kolonialverwaltung der sogenannte "Dahir berbère" ("Berber-Erlass") herausgegeben, der eine andere rechtliche Behandlung von Berbern festschrieb und so die ethnischen Unterschiede zementierte. Die Differenzierung verfolgte außerdem den Zweck, Berber als "spätbekehrte Muslime" leichter der christlichen Mission zuzuführen – bei den Arabern glaubte man hingegen Hopfen und Malz verloren.
In Gaddafis Libyen wurde die Existenz nicht-arabischer Volksgruppen im Geiste des Konzepts des "Dschamahiriya"-Volksmassenstaates einfach geleugnet. "Wir sind alle Libyer" lautete ein berühmter Ausspruch des früheren Diktators.
Auch in Algerien wurden ethnische Zugehörigkeit, Kultur und Sprache der nicht-arabischen Gemeinschaften, besonders der Kabylen, missachtet. "Es gibt keine Berber im arabischen Maghreb... sie sind vollständig arabisiert", schrieb 1956 der Algerier Fadil Al-Wartilani, ein militanter Denker des Anti-Kolonialismus, der den Muslimbrüdern nahestand.Im gesamten Maghreb wurden berberische Namen arabisiert, die arabische Sprache als einzige offizielle Sprache eingeführt, den Berbern ihre kulturelle und ethnische Eigenheit abgesprochen und als Folklore dargestellt. Ihre Sprachen wurden als bloße Dialekte abgetan. Protest gegen diese Homogenisierungsversuche wurde als Verrat an der arabischen Nation und Parteinahme für die ehemaligen Kolonialmächte begriffen.
In Algerien folgt auf den Frühling der Winter
Gegen ihre Unterdrückung setzen sich bereits seit geraumer Zeit unterschiedliche berberische Gemeinschaften zur Wehr, bis heute kommt es immer wieder zu Zusammenstößen. So etwa im Frühjahr 1980, als ein friedlicher Protest in der Kabylei mit einem massiven Militäreinsatz beantwortet wurde und als "Berber-Frühling" in die Geschichte einging. Auch der sogenannte "Schwarze Frühling" von 2001 ist noch vielen in Erinnerung, als über 100 Angehörige der ethnischen Minderheit bei Demonstrationen von Sicherheitskräften erschossen wurden.
Die anhaltenden Konflikte in Ghardaia bergen auch in Zukunft jede Menge politischen und sozialen Zündstoff. Schon jetzt zeigt sich deutlich, dass die Tatenlosigkeit des algerischen Staates angesichts der Unruhen eine weitere Bedrohung für die teuer erkaufte Stabilität des Landes darstellt.
Susanne Kaiser
© Qantara.de 2014
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de