Rache ist nicht die Lösung
In der jüngeren Vergangenheit brachten gesellschaftliche Bewegungen, die für Freiheit und politische Reformen auf die Straße gingen, gleich mehrere Herrscher in der arabischen Welt zu Fall. Ihre Gerichtsprozesse sind von historischer Bedeutung und richtungsweisend für die zukünftige Entwicklung der betroffenen Länder. Ein genauer Blick offenbart jedoch, dass das Unrecht und die Verbrechen der diktatorischen Regime vor Gericht keineswegs umfassend aufgearbeitet wurden.
Iraks ehemaliger Präsident Saddam Hussein wurde bereits vor dem Arabischen Frühling vor Gericht gestellt und verurteilt. Ihm folgten später der gestürzte ägyptische Präsident Hosni Mubarak sowie jüngst der ehemalige Staatschef des Sudan, Omar al-Baschir, und die zentralen Pfeiler des Regimes von Bouteflika in Algerien. Die zentralen Missstände, die sie zu verantworten haben, wurden jedoch in keinem dieser Prozesse verhandelt.
Saddam Hussein wurde zum Beispiel für das Massaker in der irakischen Stadt Dudschail 1982 verurteilt. Omar al-Baschir steht derweil wegen des Besitzes von Geld vor Gericht, das er entweder aus öffentlichen Kassen veruntreut oder unrechtmäßig von anderen arabischen Staaten erhalten haben soll.
Wegen Veruntreuung im großen Stil und Vertrauensmissbrauch gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern wurde den Diktatoren hingegen bisher nicht der Prozess gemacht. Auch für all die Kriege, Hinrichtungen und die katastrophalen Entscheidungen, die sie zu verantworten haben, wurden sie nicht zur Rechenschaft gezogen.
Rache statt Aufarbeitung von Verbrechen
Diese Diktatoren haben Polizeistaaten und Überwachungsregime errichtet, in denen sich sogar engste Familienmitglieder gegenseitig bespitzeln. Sie haben das soziale Gefüge ihrer Gesellschaften zerstört, sie in Lethargie zurückgelassen und zu Orten gemacht, in denen es kein Leben in Würde gibt. Für nichts von alledem mussten sie sich vor Gericht verantworten, obwohl sie der Grund dafür sind, dass eine ganze Generation junger Menschen davon träumt, ihre geschundenen Heimatländer mitsamt ihren verkrusteten Regime hinter sich zu lassen und auszuwandern.
Nachdem Saddam Hussein 2003 gestürzt wurde, hätte in seinem Prozess aufgearbeitet werden müssen, wie er sein Amt missbrauchte, um von Kuwait bis zum Iran einen Krieg nach dem anderen anzuzetteln. Er hätte für die blutige Niederschlagung des Aufstandes von 1991 genauso zur Rechenschaft gezogen werden müssen, wie für all die Katastrophen, in die er den Irak führte, bis das Land schließlich unter der amerikanischen Besatzung gänzlich in sich zusammenfiel.
Auch seine Verbrechen an Weggefährten, Freunden und Eliten innerhalb wie außerhalb der Baath-Partei sowie an den Kurden, den Schiiten und den sunnitischen Oppositionellen im Land hätten vor Gericht gesühnt werden müssen.
Saddam Hussein in einem Schauprozess zum Tode zu verurteilen und hinzurichten, war eine schlechte Entscheidung; es war eher ein Akt der Rache, als ein echter Prozess, der das wahre Gesicht der Tyrannei aufgedeckt hätte.
Genauso müsste sich Omar al-Baschir vor Gericht eigentlich für seine gesamte Amtszeit als Präsident des Sudan verantworten: Angefangen beim Militärputsch gegen die damalige, demokratisch gewählte Regierung 1989, über die zahllosen Verstöße gegen die Menschenrechte und den Verlust des Südsudan, bis hin zum Staatszerfall, den Bürgerkriegen und den Massakern, die von ihm ins Leben gerufene Milizen begangen haben.
Immerhin erhob der internationale Strafgerichtshof in Den Haag bereits 2009 vor dem Hintergrund des Darfur-Konflikts Anklage gegen Al-Baschir wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Korruption, Überwachung und Armut
Im Falle des ehemaligen ägyptischen Staatspräsidenten Hosni Mubarak verhält es sich ganz ähnlich. Statt sich auf einen isolierten Anklagepunkt zu stützen, wäre es notwendig gewesen, anhand des Prozesses die Amtszeit Mubaraks, das Unrecht und die Korruption als Ganzes aufzuarbeiten.
Nicht nur dass unter Mubaraks Ägide einige wenige Personen große Reichtümer anhäufen konnten und der Präsident der Republik sein Amt faktisch weitervererben wollte.
In Mubaraks Amtszeit hat sich Ägypten zu einem Polizeistaat entwickelt, in dem die Sicherheitskräfte systematisch Menschenrechtsverletzungen begingen, wie den Mord an dem Blogger Khaled Said, der zu einer Ikone der Revolution geworden ist. All das hätte einen umfassenden und transparenten Prozess zwingend erforderlich gemacht.
Wer, wenn nicht das Regime, ist dafür verantwortlich, dass sich Armut und Arbeitslosigkeit immer weiter ausgebreitet haben und das Land auf internationale Hilfe angewiesen ist?
Und wer trägt die Verantwortung für die Inhaftierung des Bloggers Kareem Amer unter Hosni Mubarak? Wer ist verantwortlich für das seelische Leid, das Amer ab 2006 für mehr als drei Jahre in ägyptischen Gefängnissen widerfuhr? Eigentlich wurde er – genauso wie dutzende andere – lediglich wegen Präsidentenbeleidung verfolgt. Zusätzlich wurde ihm aber noch der Vorwurf der Schmähung des Islams angehängt.
Im Gefängnis musste er dann schreckliche Torturen durchstehen. Und als er später Gelegenheit dazu hatte, schrieb er über den Wärter, der ihn misshandelte. Wie ergeht es Amer und den anderen Opfern dieser unmenschlichen Regime wohl heute?
Nachdem Amer Ägypten und die arabische Welt in Richtung Europa verlassen hatte, produzierte er einen Dokumentarfilm. Der Film macht deutlich, dass die arabischen Despoten sich einer Sache nicht bewusst sind: Die lange Liste ihrer Verbrechen wird länger und länger, weil sie weder geahndet noch aufgearbeitet werden.
Die Rückkehr der Tyrannei in neuem Gewand?
Wie sollen sich die Menschen in der arabischen Welt von der Tyrannei der Despoten befreien, wenn sie sie nicht auf Basis dessen zur Rechenschaft ziehen, was sie über die Pflichten und Verantwortung der Herrschenden gegenüber ihrem Volk wissen? Ohne die Aufarbeitung und Bestrafung ihrer Verbrechen, werden die autoritären Regime in neuem Gewand zurückkehren und auch das, was von der arabischen Welt noch übrig ist, an sich reißen.
Das stark ambivalente Verhältnis der Menschen in der arabischen Welt zum Staat erklärt sich dadurch, dass diese Staaten bis heute als Instrument für Repression, Zwang, Korruption und persönliche Bereicherung eingesetzt werden. Und selbst wenn Politik und Staat in einigen Fällen Entwicklungserfolge erzielen, dann weil diese partikulären Interessen dient, nicht weil es den Menschen und Gesellschaften zugutekommt.
Dass sie nicht nur den Staat ausgehöhlt haben, sondern auch die Gesellschaft zerstört, ist der eigentliche Vorwurf, den man den Despoten der arabischen Welt machen muss. Es reicht aber nicht, sie einfach nur ins Gefängnis zu schmeißen, auch wenn es manchen lieb wäre. Sie umzubringen wie Muammar al-Gaddafi, oder hinzurichten wie Saddam Hussein, ist auch keine Lösung. Es ist ein Akt der Rache, der keinesfalls die systematische Unterdrückung beendet.
Wichtiger wäre es, ihre Herrschaft als Ganzes mitsamt ihren Akteuren, ihren Mechanismen und ihrer Brutalität vor Gericht aufzuarbeiten, um etwas Neues aufzubauen und damit die autoritären Regime und ihre Übel wirklich zu überwinden.
Das wäre ein Zeichen dafür, dass die arabische Welt echte Reformen und tiefgreifenden Wandel anstrebt, um sich endlich vom Joch der Despoten zu befreien.
Shafeeq Ghabra
© Qantara.de 2019
Shafeeq Ghabra ist politischer Analyst und arbeitet als Professor für Politikwissenschaft an der Kuwait University.
Aus dem Arabischen von Thomas Heyne