Den Konsens aufgekündigt
Vor Kurzem hatte Tunesiens Präsident Beji Caid Essebsi das Ende des politischen Konsenses mit seinem Regierungspartnern von der Ennahda-Partei verkündet. Auslöser für den Bruch war ein Streit über den Verbleib der Regierung im Amt.
Darüber hinaus erneuerte Essebsi seine Forderung gegenüber dem Regierungschef Youssef Chahed, sich vor dem Parlament der Vertrauensfrage zu stellen. Aufgrund der veränderten politischen Gesamtlage scheint es allerdings, dass dieser Bruch im Gegensatz zu früheren Konflikten keine schwerwiegenden Folgen haben wird.
Die Übereinkunft zwischen Säkularen und Islamisten in Tunesien hielt fünf Jahre lang. Obwohl es ein fragiler und trügerischer Konsens zwischen den beiden Erzrivalen war, glauben politische Beobachter, dass dieser Konsens in Wirklichkeit das Geheimrezept ist, das Tunesien das Schicksal Libyens, des Jemens oder Syriens erspart hat - ungeachtet dessen, dass der Transitionsprozess bisher weder abgeschlossen ist, noch zur Herausbildung und Verankerung neuer Verfassungsorgane geführt hat.
Der Anfang vom Ende
Seit Beginn dieses Jahres mehren sich die Anzeichen, dass sich das bisherige politische Arrangement dem Ende zuneigt, denn tiefgreifende Veränderungen in der politischen Landschaft Tunesiens haben inzwischen dazu geführt, dass die Voraussetzungen für das Bündnis nicht mehr gegeben sind.
Nidaa Tounes, die Partei mit den ehemals meisten Abgeordneten, ist aufgrund einer Welle von Rücktritten nicht einmal mehr zweitstärkste Kraft im Land. Es kommt hinzu, dass die Rücktrittswelle tiefe Risse in der Regierungspartei hinterlassen hat, die von Essebsi mit dem Ziel gegründet worden war, nach dem Wahlsieg der Islamisten und ihrer Vorherrschaft in der Parteienlandschaft ein politisches Gegengewicht zu schaffen.
Natürlich nutzen die Islamisten der Ennahda-Partei die Zersplitterung des "Verbündeten" aus: In letzter Zeit begannen sie Positionen zu vertreten, die der gemeinsamen seit August 2013 verfolgten politischen Linie widersprechen.
Ein weiteres Vorzeichen des sich anbahnenden Bruches war die Gesetzesinitiative Essebsis zur Gleichstellung von Mann und Frau im Erbrecht. Sie wurde zwar dem Parlament bisher nicht zur Abstimmung vorgelegt, aber die Ennahda hatte erkannt, dass die Gesetzesinitiative darauf abzielt, sie in eine unangenehme Position zu bringen und zu "erpressen" – schließlich ist das Erbrecht ein äußerst sensibles Thema in Hinblick auf den politischen Islam.
Die Partei sprach sich in aller Deutlichkeit gegen die Vorlage aus. Jetzt ist der Bruch zwischen den einstigen Verbündeten sehr wahrscheinlich geworden, insbesondere nachdem sich beide Seiten in einer medialen Schlacht gegenseitig in ein schlechtes Licht rückten, gegeneinander Vorwürfe erhoben und sich letztlich nur noch heftiger in die Haare bekamen, als es um die Frage ging, ob der derzeitige Regierungschef Youssef Chahed im Amt bleiben soll oder nicht.
Chahed liegt seit Monaten im Clinch mit Hafez Caid Essebsi, dem Sohn des Präsidenten und Parteichef von Nidaa Tounes. Er gilt nicht nur als auserwählter „Erbe“ seines Vaters, sein Missmanagement in der Parteiführung und die unter ihm vorherrschende Vetternwirtschaft sind in den Augen vieler auch der Grund für die Zersplitterung der Partei und die Abwanderung ihrer Führungsriege und deren Entourage.
Essebsi ist noch nicht fertig!
Wer Essebsis politischen Werdegang seit seiner Rückkehr im Jahr 2011 verfolgt hat, dürfte ahnen, dass dieser in die Tage gekommene Politiker, der in den autokratischen Regimen unter Bourgiba und Ben Ali politisch sozialisiert wurde und diese unterstützte, nicht so leicht aufgeben und die weiße Fahne hissen wird – auch wenn sowohl er selbst, als auch sein Sohn daran gescheitert sind, den Regierungschef Youssef Chahed aus dem Amt zu drängen. Hatte er doch selbst verlauten lassen: "Keiner wird mit mir regieren!" und "Ich weiß, was ich tue!".
Seine medialen Ausrutscher deuten an, dass er seine Ziele hartnäckig verfolgt und die sich nicht so leicht unterordnet. Viele sehen in seinem Wunsch, alte Rechnungen zu begleichen den Hauptgrund für seine Präsidentschaftskandidatur in fortgeschrittenem Alter: Die Ennahda hatte ihm das Präsidentenamt versprochen, zog dann aber ihren damaligen Verbündeten Moncef Marzouki vor. Also gründete er eine eigene Partei und kehrte 2014 als rechtmäßiger und demokratisch gewählter Präsident zurück.
Allerdings wirkte Essebsi angeschlagen und wenig überzeugend, als er während eines Fernsehinterviews den Bruch mit den Islamisten verkündete und den von ihm selbst für dieses Amt vorgeschlagenen Regierungschef eindringlich dazu aufforderte, sich vor dem Parlament der Vertrauensfrage zu stellen.
Denn dass das Parlament Chahed das Vertrauen ausspricht, gilt aufgrund einer breiten Unterstützerfront aus Abgeordneten der Ennahda-Partei und ehemaligen Mitgliedern der Nidaa-Tounes-Fraktion als so gut wie sicher. Auch aus dem Ausland erhält Chahed viel Unterstützung, insbesondere durch die Geberinstitutionen, die seinem Privatisierungskurs sehr wohlwollend gegenüberstehen.
Den Druck auf die Ennahda erhöhen
Ein Jahr bleibt Essebsi noch an der Spitze des Staates und es scheint, als würde er es nutzen wollen, um seine Partei wieder auf Vordermann zu bringen und die Rücktrittswelle zu stoppen. Vermutlich wird er diese Mission, an der sein Sohn noch scheiterte, sogar höchstpersönlich übernehmen. Dabei könnte er dazu gezwungen sein, den Gesetzesvorschlag für das Erbrecht schnell zur Abstimmung zu bringen, um den Druck auf die Ennahda zu erhöhen und die neue Fraktion aus ehemaligen Abgeordneten von Nidaa Tounes dazu zu zwingen, eine klare Haltung zu den "ideologischen" Positionen der Ennahda einzunehmen.
Denn der heterogene Block stimmt mit den Islamisten lediglich in einer Frage überein: Chahed muss aus ihrer Sicht im Amt bleiben. Abgesehen von diesem einen Punkt unterscheiden sie sich in ihren Auffassungen aber offensichtlich fundamental, denn viele dieser Abgeordneten haben eben wegen des Bündnisses mit den Islamisten ihr Mandat für die Partei des Präsidenten niedergelegt. Auch der Ennahda dürfte klar sein, dass sie sich nicht auf jene Abgeordneten verlassen kann, um einen starken und vertrauenswürdigen Verbündeten wie Essebsi zu ersetzen.
Das Festhalten der gemäßigten Islamisten am "Konsens"
Während Essebsi taktiert, um weiterhin ein Faktor in der tunesischen Politik zu bleiben – wenn auch gemäß der neuen Verfassung mit begrenzten Kompetenzen –, legen die Islamisten der Ennahda die Aussagen des Präsidenten gänzlich anders aus. In einer offiziellen Stellungnahme verkündete die Partei, am Konsens festhalten zu wollen und fand erneut lobende Worte für den Präsidenten und seine Rolle im demokratischen Transformationsprozess. Sie unterstrich, dass die Meinungsverschiedenheiten in einigen Angelegenheiten und insbesondere hinsichtlich der Stabilität der Regierung, nicht das Ende ihrer engen Zusammenarbeit mit Essebsi bedeuteten.
So lautete zumindest die Quintessenz sämtlicher Erklärungen der Ennahda-Führungsriege gegenüber den Medien, obwohl Essebsi seinerseits betonte, dass es die Ennahda gewesen sei, die das Ende der "Politik des Konsens" gefordert habe – und nicht umgekehrt.
Unabhängig davon weiß man in der islamistischen Ennahda-Partei, dass die Koexistenz mit den Säkularen nicht mehr bloß eine Option ist, die aus den Kräfteverhältnissen auf der politischen Bühne resultiert. Denn schon bei den Wahlen 2014 musste die einst stärkste Partei Verluste hinnehmen. Das verdeutlicht, dass das Bündnis der beiden Parteien letztlich eine "taktische Allianz" ist, die sich auflöst, sobald die Umstände ihrer Entstehung nicht mehr gegeben sind.
Dennoch werden sich die Säkularen und die gemäßigten Islamisten in Tunesien auch künftig die Macht teilen. Sei es nun aus innenpolitischen Zwängen oder durch Druck der internationalen Gemeinschaft, die dem tunesischen Weg wohlwollend gegenübersteht und ihn gerne als Erfolgsgeschichte in einer Region darstellen möchte, die mehr und mehr in Aufruhr und Krieg versinkt.
Ismael Dbara
© Qantara.de 2018
Der Autor ist tunesischer Journalist und Vorstandsmitglied des "Tunesischen Zentrums für Pressefreiheit".
Aus dem Arabischen von Thomas Heyne