Konfessionalismus als Auslaufmodell
Im Libanon gilt die starke Stellung der Religion in Politik und Alltag als ein wesentliches Hindernis für dauerhaften inneren Frieden. Eine Studie von Anne Francoise Weber untersucht den Alltag und die Einstellungen libanesischer Familien, in denen mehrere Konfessionen aufeinander treffen. Martina Sabra stellt die Erkenntnisse vor.
Ob man heiraten möchte oder sich für einen Job bewirbt, im Libanon heißt es immer als erstes: Welcher Religionsgemeinschaft gehören Sie an?
Der Konfessionalismus dominiert im Libanon sowohl die Politik als auch den Alltag. In der Politik rangiert oft das partikulare Interesse der jeweiligen Religionsgemeinschaft vor dem Interesse der Allgemeinheit; damit einhergehende Rivalitäten führen immer wieder dazu, dass externe Mächte die Gruppen gegeneinander ausspielen und letztlich von außen die Geschicke des Landes bestimmen können.
Dieser Konfessionalismus führt dazu, dass die LibanesInnen nicht die Freiheit haben, über ihre Religionsausübung selbst zu bestimmen, denn es gibt im Libanon keinen staatsbürgerlichen Status jenseits der Religionsgemeinschaft.
Viele Libanesen sind sich durchaus bewusst, dass ihr politisches System weder mit einem modernen Nationalstaatsverständnis noch mit den universalen Menschenrechten kompatibel ist. Dennoch gab es im Libanon bislang keine wirklich ernsthaften Bestrebungen, den Konfessionalismus abzuschaffen. Alle Versuche, beispielsweise die Zivilehe einzuführen, scheiterten kläglich. Und doch ist klar, dass der Konfessionalismus – wie auch die Verquickung von Staat und Religion – historisch ein Auslaufmodell darstellt.
Wenige bireligiöse Ehen
Die Soziologin Anne Francoise Weber bearbeitet in ihrer Dissertation zwei Kernfragen: Ist die libanesische Bevölkerung davon überzeugt, dass der Konfessionalismus abgeschafft werden muss? Und wo gibt es in der libanesischen Gesellschaft Strukturen, Räume, Akteure, die explizit oder implizit die konfessionellen Grenzen überschreiten?
Um Antworten auf diese Fragen zu finden, hat Weber sich zum einen mit den islamisch-christlichen Dialoginitiativen im Libanon befasst. Zum anderen – und hier ist die Studie besonders interessant – hat sie detailliert den Lebensalltag und die religiösen Einstellungen islamisch-christlich gemischter Familien untersucht.
Zwar heiraten laut offiziellen Angaben über neunzig Prozent der Libanesen innerhalb der eigenen Glaubensgemeinschaft und bireligiöse Familien sind immer noch selten. Doch nach Weber sind die Erfahrungen der bireligiösen Ehepaare/Familien relevant, weil ihre Alltagserlebnisse darüber Aufschluss geben können, wie es tatsächlich um jene nationale Einheit und jenen Dialog steht, "von dem im Libanon so oft die Rede ist."
Viele Libanesen verweisen stolz auf die religiöse und kulturelle Vielfalt ihres Landes. Bireligiöse Ehen sind im Libanon aber sozial eher geächtet. Auch rechtlich stehen religiös gemixte Paare vor großen Problemen: das fängt bei der Eheschließung selbst an, die mangels Zivilehe im Ausland stattfinden muss (meist auf Zypern), und geht weiter bei Scheidungs- und Unterhaltsrecht sowie beim Erbrecht. Die Tatsache, dass für Muslime, Christen und Drusen völlig verschiedene Personenstands- und Erbgesetze gelten, führt teilweise dazu, dass EhepartnerInnen nach einer gewissen Zeit aus rein pragmatischen Gründen gegen die ursprüngliche Absicht doch konvertieren.
Stärkung der eigenen konfessionellen Identität
Insgesamt führte Weber Tiefeninterviews mit 34 bireligiösen Ehepaaren und sechs Kindern aus solchen Verbindungen. Die meisten der interviewten Personen waren entweder sunnitisch oder griechisch-orthodox und stammten aus der bürgerlichen Oberschicht Beiruts oder aus dem ländlichen Ort Halba.
Bei den Interviews fällt ein Aspekt auf Anhieb auf: Obschon die befragten Paare allesamt die Nachteile des Konfessionalismus am eigenen Leib erlebt haben und sie oft gegen massive soziale Widerstände kämpfen mussten, ist nur ein Teil gegen das konfessionalistische System. Und nur eine Minderheit spricht sich dafür aus, die gemeinsamen Kinder interreligiös zu erziehen. Bei manchen führt die bireligiöse Ehe gar zu einer Stärkung der eigenen religiösen Identität.
Bei ihrer Untersuchung konzentrierte sich Weber auch auf die religiöse Praxis im Alltag und auf die Weitergabe der Religionszugehörigkeit an die Kinder. Dabei arbeitet sie drei Typen heraus: 1) die areligiöse Familie, die den Kindern keine religiöse Erziehung gibt; 2) die religiös asymmetrische Familie, bei der ein Elternteil die religiöse Erziehung der Kinder übernimmt, und 3) die interreligiöse Familie, bei der die Kinder Elemente aus den Religionen beider Eltern übernehmen.
"Opa ist jetzt bei Jesus"
Auffallend ist, dass nicht immer der Vater über die Religion der Kinder bestimmt, sonder die Mütter. Ein weiteres frappierendes Element ist der Pragmatismus vieler Paare. Eine Frau schiitischen Glaubens, die mit einem maronitischen Christen verheiratet ist, meldete ihre Kinder aus freien Stücken zum maronitisch-christlichen Glaubensunterricht an, obwohl der Vater der Kinder nicht darauf bestand. Als der Großvater starb, erzählte sie ihrer Tochter, der Opa sei jetzt bei Jesus – das sei für das Kind bildlich und damit leichter nachzuvollziehen.
Die Studie von Weber zeigt: Auch wenn die Logik des Unterschieds in einer Gesellschaft stark ist, so gibt es immer Elemente, die sich widersetzen. Und es gibt eine kleine, aber wachsende Zahl von Libanesen, die das Recht einfordern, sich nicht zu einem bestimmten Glauben bekennen zu müssen: "Die libanesische Zeder ist nicht nur islamisch-christlich", schreibt Anne Francoise Weber.
Webers Studie schließt mit der Feststellung, dass langfristig an der Trennung von Religion und Staat im Libanon kein Weg vorbeiführe. Kollektive Identitäten könnten aber nicht von jetzt auf gleich abgeschafft werden. Es komme darauf an, diese Identitäten nicht weiter zu politisieren. "Stattdessen solle man gemeinsame Räume schaffen, in der Politik wie im Privatleben", schreibt Weber. Die Emanzipation des Einzelnen hänge letztlich davon ab, ob er seine Zugehörigkeit zu einem Kollektiv frei auswählen oder auch ablehnen könne.
Martina Sabra
© Qantara.de 2008
Anne Francoise Weber: Le Cèdre islamo-chrétien. Nomos Verlag, Baden-Baden, 2007. Auf Französisch. (Das Buch beruht auf einer Dissertation, die simultan in Frankreich und Deutschland betreut wurde.)
Qantara.de
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