Grundlegende Reform oder Augenwischerei?

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Die vor kurzem beschlossene Änderung des Gesetzes über die "Beleidigung des Türkentums" soll der EU signalisieren, dass die Demokratisierung in der Türkei voranschreitet. Doch eröffnet die Reform wirklich neue Chancen für Pluralismus und Meinungsfreiheit?

Von Günter Seufert

Wie zurückhaltend die Europäische Union doch gegenüber der Türkei geworden ist! Diesen Eindruck gewinnt, wer die ersten europäischen Reaktionen auf die längst überfälligen Änderungen des berüchtigten Meinungsparagrafen 301 des türkischen Strafgesetzbuchs zur Kenntnis nimmt.

Die Kommission der Europäischen Union äußerte ihre "Zufriedenheit", die Ratspräsidentschaft, glaubt "einen konstruktiven Schritt" erkannt zu haben, und in Berlin sieht der Sprecher des Außenministeriums Andreas Peschke in der Reform eine "Stärkung der Grundrechte" in der Türkei.

Vom 'Türkentum' zur 'Türkischen Nation'

Seit vergangenem Mittwoch morgen ist nicht mehr die "Herabsetzung des Türkentums", sondern nur noch die "Herabsetzung der Türkischen Nation" strafbar, doch es spricht nichts dafür, dass die Justiz, welche bisher so eifrig in der Strafverfolgung war, sich jetzt stärker zurückhält. Erfreulich ist, dass Meinungstäter nur noch auf zwei statt wie bisher auf drei Jahre verurteilt werden können, und dass die Strafe jetzt zur Bewährung ausgesetzt werden kann.

Als größter Fortschritt wird verkauft, dass man für die Eröffnung neuer Verfahren im Rahmen von Paragraf 301 von jetzt an die Erlaubnis des Justizministers benötigt.

Reicht das, um die EU optimistisch zu stimmen? Derzeit dauern noch 527 Verfahren auf Grundlage des Paragrafen 301 an, bislang wurden mit Hilfe des "Knebelparagrafen" 745 Leute bereits verurteilt – unter anderem auch Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk, der vor den Kadi gezerrt wurde, aber rechtzeitig sein Land verließ. Und auch der armenische Journalist Hrant Dink wurde auf Grundlage des Paragrafen 301 zum Feind der Türken stilisiert und später hinterrücks ermordet.

Mehr Meinungsfreiheit in der Türkei?

Solch prominente Fälle können mit Hilfe der neuen Regelung jetzt ohne weiteres gestoppt werden, sofern der Justizminister die Anklageerhebung verhindert. Den Hunderten nicht prominenten Opfern des Strafrechtsparagrafen in den urbanen Zentren, im fernen Anatolien und in den mehrheitlich kurdisch besiedelten Gebieten ist damit jedoch nicht geholfen.

Allein die Logik erfordert, dass "Erlaubnis des Justizministers" bedeutet, dass die Anklage gemäß Paragraf 301 in einem Fall verhindert und im nächsten erlaubt wird. Das hat mit Gnadenakt zu tun, doch nichts mit Rechtssicherheit und mehr Meinungsfreiheit.

Orhan Pamuk; Foto: dpa
Auf Grundlage des umstrittenen Artikels 301 des Strafgesetzbuches war unter anderen auch der Schriftsteller Orhan Pamuk strafrechtlich verfolgt worden; Foto: picture-alliance/dpa

​​Orhan Pamuk hatte gesagt, in der Türkei seien eine Million Armenier und 30.000 Kurden eines gewaltsamen Todes gestorben und wurde dafür angeklagt. Hat er, falls er tatsächlich irgend etwas erniedrigt haben sollte, mit diesem Satz tatsächlich nur das "Türkentum" beleidigt oder gleichzeitig auch die "Türkische Nation"? Wahrscheinlich je nach Lesart: entweder keines von beiden oder das eine wie das andre.

Und was wird aus Ragip Zarakolu, den Inhaber des Belge-Verlags in Istanbul, der das Buch des Engländers George Jerjian "Die Wahrheit macht uns frei" zur Armenierfrage herausbrachte und dafür wegen Paragraf 301 vor Gericht steht? Hat er nun das 'Türkentum' herabgesetzt oder die 'Türkische Nation'?

Im allgemeinen Sprachgebrauch ist das ein und dasselbe, weshalb laut Verfassung die Mitglieder dieser Nation, als ihre Muttersprache nur Türkisch lernen dürfen. Und umgekehrt ist unter all den Anklagen gemäß Paragraf 301 nicht eine einzige, in der es um die Herabsetzung von bestimmten Religionsgemeinschaften oder Volksgruppen in dieser Nation geht, wie zum Beispiel Christen oder Kurden.

Demokratie ohne Demokraten

Um also diesen kleinen Zuwachs an Meinungsfreiheit zu erreichen, tagte das Parlament fast bis zum Morgengrauen. Die Opposition tat, was in ihrer Macht stand, um die Minireform noch zu verhindern.

Der Volkspartei der Republik (CHP) ist die Strafmilderung ein Dorn im Auge, und die rechtsextreme Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) sorgt sich um die "Werte des Türkentums", die jetzt allen Schutzes bar seien sollen. Die Chefs beider Parteien geißelten die Neufassung als "Vaterlandsverrat" und setzten die Erdogan-Regierung gehörig unter Druck.

Auch die Zivilgesellschaft der Türkei plädiert nur für kleine Reformschritte: Unternehmerverbände machen sich Sorgen um das Image der Türkei und fordern seit langem eine Reform des berüchtigten Strafrechtsparagrafen, komplett beseitigt sehen wollen sie ihn nicht.

Das gleiche gilt für viele Gewerkschaften, und selbst die Rechtsanwaltskammer bläst in das gleiche Horn. "Die Balance zwischen Meinungsfreiheit und den heiligen Werten unserer Nation muss immer gewahrt werden", erklärte etwa ihr Vorsitzender Özdemir Özok.

Widerstand innerhalb der AKP

Mehr noch, selbst in der AKP von Regierungschef Erdogan sitzen einflussreiche Politiker, die den Paragrafen 301 und ähnliche Strafrechtsbestimmungen favorisieren und sich der ersatzlosen Streichung des "Maulkorbparagrafen bislang erfolgreich widersetzten.

Einer davon heißt Cemil Çiçek und ist heute Regierungssprecher. Als türkischer Justizminister hatte er 2006, auch nach den internationalen Protesten gegen den Pamuk-Prozess, die Staatsanwälte zu zahlreichen Anklagen in Fällen von "Meinungsdelikten" ermuntert. Sein Runderlass von damals ist immer noch in Kraft.

Nur eine Handvoll Intellektueller und die pro-kurdische "Demokratische Gesellschaftspartei" (DTP) fordern seit Jahren vehement, dass der Paragraf 301 abgeschafft wird. Denn die jetzige Regelung ändert nichts an den spezifisch türkischen Tabus, z.B. in der Kurden- und der Armenierfrage.

Sie bringt keine Rechtssicherheit, verwischt die Zuständigkeit von Richtern und Regierung und hilft den derzeit noch Angeklagten wenig. Doch für den Abbau von Tabus und für Rechtssicherheit gibt es im Parlament heute noch keine Mehrheit.

Günther Seufert

© Qantara.de 2008