Angst vor offenen Rechnungen

Ägypten tut sich schwer im Umgang mit seiner jüngsten Vergangenheit: Die Ver­antwortlichen versuchen die Geheimdienstakten unter Verschluss zu halten, und niemand traut sich wirklich, den Sicherheitsapparat zu reformieren. Von Andreas Jacobs

"Warum schmutzige Wäsche waschen?" Für ­Abdel-Monem, den Kioskbesitzer mit dem sorg­fältig getrimmten Bart, ist die Sache klar: Er begrüßt zwar, dass nun einigen Verantwortlichen des Mubarak-Regimes der Prozess gemacht wird. Von einer systematischen Aufarbeitung der Ver­brechen von Polizei und Geheimdiensten hält er aber wenig.

Dabei hätte gerade er allen Grund, dies zu fordern. Immer wieder hatten Polizisten und Geheimdienstspitzel ihn wegen seiner Nähe zur Muslim­bruderschaft befragt. In seinem Kiosk steckten sie Zigaretten, Telefonkarten und Getränke ein, ohne zu bezahlen. Wenn er sich beschwerte, wurde er mitgenommen und verhört, manchmal auch geschlagen. Aber seine Peiniger zur Rechenschaft ziehen?

Zu gefährlich, sagt Abdel-Monem. Außerdem habe Ägypten jetzt andere Probleme. Die Gründe für seine Zurückhaltung liegen auf der Hand. Obwohl mit Präsident Mohammed Mursi mittlerweile ein Muslimbruder an der Spitze des Landes steht, ist vieles in Ägypten beim Alten geblieben. Die Beamten von damals sind größtenteils noch im Amt und der Geheimdienst ist unter neuem Namen weiter aktiv. Kein Wunder also, dass für viele Ägypter die Grundregel des Kairoer Straßenverkehrs nun auch für die Politik gilt: immer nach vorne schauen! Die Vergangenheit meiden sie lieber.

Das Ende der Überwachung

Dabei hatte es zunächst anders ausgesehen. Als wenige Wochen nach dem Sturz Mubaraks im Frühjahr 2011 die Nachricht die Runde machte, dass beim berüchtigten Inlandsgeheimdienst SSIS (State Security Investigations Service) massenhaft Akten vernichtet würden, schritten Aktivisten zur Tat. Am 4. und 5. März stürmten sie mehrere SSIS-Gebäude und stellten zahlreiche Akten sicher.

Die Bilder vom Sturm auf die ägyptische "Stasi unter Palmen" – wie die deutsche Wochenzeitung "Der Spiegel" titelte – gingen um die Welt. Sie riefen Erinnerungen an die Besetzung der Ostberliner Stasi-Zentrale in Deutschland vor gut 21 Jahren wach.

Für kurze Zeit wurde so der Blick auf einen Machtapparat frei, von dem man bislang so gut wie nichts wusste – außer, dass er zu den wenigen effizient arbeitenden Behörden des Landes gehörte. Etwa 100.000 Mitarbeiter sollen für ihn tätig gewesen sein, darunter viele Blogger, Aktivisten und Übersetzer.

Stürmung der Geheimdienstzentrale in Alexandria; Foto: AP
"Stasi unter Palmen": Drei Wochen nach dem Sturz Mubaraks hatten mehrere hundert Demonstranten das Hauptquartier des Geheimdienstes in Alexandria gestürmt. In Kairo ging die Geheimdienstzentrale in Flammen auf.

​​Berge von Dokumenten lassen darauf schließen, dass sie das Privatleben vieler Personen lückenlos überwachten. Vor allem Islamisten, aber auch liberale Oppositionelle, Gewerkschaftler, Künstler, Ausländer, Vertreter religiöser und ethnischer Minderheiten und Personen mit Kontakten nach Israel nahmen sie ins Visier.

Offiziell ist hiermit im neuen Ägypten Schluss. Die Staatssicherheit wurde aufgelöst und in eine neue Behörde, die "EHS" (Egyp­tian Homeland Security), überführt. Diese, so der Innenminister des Übergangs, Mansour Al-Essawy, werde die Ägypter nicht mehr bespitzeln, sondern beschützen. 700 Führungsoffiziere des SSIS sollen entlassen worden sein, 41 von ihnen werden im kommenden Herbst vor Gericht gestellt.

Viel zu spüren ist davon jedoch nicht. Die meisten SSIS-Mitarbeiter ­sitzen nach wie vor in ihren Büros. Der berüchtigte SSIS-Chef, Hassan Abdel Rahmen, wurde schon im Juni 2012 von dem Vorwurf freigesprochen, für den Tod von Demonstranten verantwortlich zu sein. Und auch sonst wurde bisher nur den wenigsten der Prozess gemacht. Weiterhin weiß niemand, wo sich die angeblich gesicherten Dokumente der ägyptischen Stasi befinden und wer Zugang zu ihnen hat. Und die Ergebnisse von Untersuchungskommissionen versickern im Sumpf der berüchtigten ägyptischen Bürokratie.

Beobachter vermuten, dass die Beamten von Staatssicherheit und Innenministerium auch heute hinter vielen der Übergriffe gegen Aktivisten, Oppositionelle und Demonstranten stecken. Weiterhin sollen sie für die Organisation von Schlägerbanden, für Kampagnen gegen ungeliebte Journalisten und für die Verfolgung von Nichtregierungsorganisationen verantwortlich sein. Die Täter von heute sind dieselben wie damals. Kein Wunder also, dass der mächtige Sicherheitsapparat wenig daran interessiert ist, die Verbrechen der Vergangenheit aufzuarbeiten.

Sicherheitsreform: Keiner traut sich

Für eine Abschaffung der EHS haben sich bislang nur die radikalislamischen Salafisten ausgesprochen. Alle anderen politischen Akteure erwägen höchstens eine Reform, schrecken aber selbst davor zurück. Sie fürchten, dass unbequeme Wahrheiten ans Licht kommen könnten.

Anhänger Mohammed Mursis in Kairo; Foto: AP/dapd
Im Zwielicht: Zwar waren die Muslimbrüder einst die Hauptopfer von Mubaraks Repression. Doch sie hatten in der Vergangenheit durchaus auch Verbindungen zum Sicherheitsapparat, schreibt Jacobs.

​​Auch ob Präsident Mohamed Mursi etwas daran ändern wird, bleibt zu bezweifeln. Zwar waren die Muslimbrüder einst die Hauptopfer von Mubaraks Repression. Doch sie hatten durchaus auch Verbindungen zum Sicherheitsapparat. So meldeten ägyptische Zeitungen im Juni 2012, dass es vor den Parlamentswahlen 2005 geheime Verhandlungen zwischen der Bruderschaft und der Staatssicherheit gegeben hatte.

Die ägyptischen Sicherheitsbehörden, die einst zum Kampf gegen den Islamismus ausgebildet wurden, begegnen dem neuen muslimischen Präsidenten eher mit Misstrauen. Viele befürchten, dass die Muslimbruderschaft mehr ihrer eigenen Leute auf Führungspositionen in Polizei und Geheimdienst bringen möchte. Dann könnten die Opfer von gestern die Vorgesetzten von morgen werden.

Der junge Polizeioffizier Mahmoud denkt anders als seine Kollegen. "Ägypten braucht eine effiziente und bürgerorientierte Polizei", ist er überzeugt. "Die bekommen wir aber nur, wenn es einen Ausgleich zwischen Tätern und Opfern gibt." Zusammen mit Jugendaktivisten tritt er in Seminaren für politische Bildung auf und lässt sich auf öffentliche Gespräche mit Gewerkschaften und Muslimbrüdern ein – und das sogar in Uniform. Da er seine Ausbildung gerade erst abgeschlossen hat, würde ihn kaum jemand für einen Täter des Mubarak-Regimes halten.

Innenministerium und Sicherheitskräfte dagegen scheuen einen solchen Ausgleich, und lassen sich selbst von Angeboten aus dem Ausland kaum beeinflussen. Besucher werden empfangen, hier und da sind ein Gespräch und sogar ein öffentlicher Vortrag möglich, aber wirkliche Projekte scheiterten bislang an politischen Vorbehalten und bürokratischen Hindernissen. Die Angst vor dem "Einfluss ausländischer Mächte" wurde in der Transformationsphase von vielen Seiten ausreichend geschürt.

Modell Deutschland

Aufgrund dieser Vorbehalte ist es für die Entwicklungszusammenarbeit schwierig, sich in die Vergangenheitsbewältigung in Ägypten einzumischen. Doch gerade Deutschland könnte hier sinnvolle Angebote machen, durchläuft es doch seit dem Fall der Berliner Mauer selbst einen solchen Prozess. Der deutsche Weg der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit ist weltweit einzigartig.

Vor allem der Umgang mit den Stasi-Akten stößt bei arabischen Staatsangehörigen auf großes Interesse. Immer mehr Besucher aus Ägypten, Tunesien, Irak, Jemen und neuerdings auch Syrien informieren sich im Berliner Archiv der Stasi-Unterlagen-Behörde BStU, wie der Zugang zu Akten organisiert wird und wer Einsicht nehmen darf. In Tunesien wird das deutsche Modell eines Aktenzugangsgesetzes ernsthaft politisch erwogen, in Ägypten wird es zumindest öffentlich diskutiert.

Auf Zustimmung stößt bei arabischen Besuchern auch die Balance zwischen Transparenz und Datenschutz sowie zwischen Aufarbeitung und Opferschutz, die Deutschland gefunden hat. "Auch in Ägypten wollen die meisten Menschen Aufklärung und nicht Anklage", so der Vertreter einer li­beralen Reformpartei bei einem BStU-Besuch im Sommer 2011. "Unser Ziel ist Versöhnung, nicht Bestrafung."

Natürlich sind es nur sehr wenige, die Deutschland einen Besuch abstatten können. Deshalb könnten internationale Projekte beispielsweise Diskus­sionsforen vor Ort anbieten, bei denen Menschen über ihre Erfahrungen berichten können. In Ägypten ist es neu und wichtig, dass öffentlich über Folter, Missbrauch und Wiedergutmachung gesprochen werden kann.

Aber auch technische und institutionelle Hilfe ist möglich. Angebote aus dem Ausland, Gesetzesvorlagen zu erarbeiten, Institutionen neu zu strukturieren und Ausbildungs- und Arbeitsmethoden zu verbessern, stoßen auch bei Staatsdienern auf Interesse. Bei solchen Projekten ist jedoch wichtig, dass die Projektverantwortlichen nicht vom Helfer zum Komplizen werden. Sie müssen dringend staat­liche Stellen einbeziehen, die politischen Entwicklungen im Auge behalten und sich auf Sach- und Detail­fragen konzentrieren.

"Über die Angst muss man sprechen"

Der bekannte Autor Alaa Al-Aswani wies Anfang des Jahres darauf hin, dass Ägypten in der Ver­gangenheit fast doppelt so viel für die innere Sicherheit ausgegeben hat wie für Gesundheitsversorgung. Das zeigt Al-Aswani zufolge, dass es dem Regime in Wirklichkeit um Kontrolle gegangen sei, nicht um Fürsorge. Auch das war ein Auslöser der Revolution: Die Massendemonstrationen richteten sich schließlich nicht nur gegen fehlende Parti­zipationsmöglichkeiten und Zukunftschancen, sondern vor allem auch gegen den Sicherheitsapparat.

Alaa al-Aswani; Foto: dpa
Kontrolle statt Fürsorge: Der bekannte Autor Alaa Al-Aswani wies Anfang des Jahres darauf hin, dass Ägypten in der Ver­gangenheit fast doppelt so viel für die innere Sicherheit ausgegeben hat wie für Gesundheitsversorgung.

​​Der Umbau von Polizei und Sicherheitskräften gehört daher zu den wichtigsten Herausforderungen der Nach-Mubarak-Ära. Wie weit der politische Wille zur Reform wirklich reicht, bleibt jedoch unklar. Viele Verantwortliche haben Angst vor Rache und offenen Rechnungen. Sie verstecken sich hinter Umbenennungen, Dienstanweisungen und Absichtserklärungen. Für Mahmoud, den jungen Polizeioffizier, ist das der falsche Weg. "Wir müssen auf beiden Seiten das Bewusstsein verändern, wenn wir einen neuen Sicherheitsapparat aufbauen wollen. Ungerechtigkeit und Angst kann man nicht überwinden, indem man einfach nicht darüber spricht."

Aufklärung unerwünscht

Die anderen Staaten des Arabischen Frühlings gehen mit ihrer jüngsten Geschichte meist ähnlich um wie die Ägypter: Die Vergangenheit ist zwar Thema, Aufarbeitung aber oft nicht wirklich erwünscht.

In Tunesien wird ebenso heftig über den Umgang mit Geheimdienstakten und eine Reform des Sicherheitsapparats gestritten wie in Ägypten. Mit ebenso ge­ringem Erfolg: Der Zugang zu den Akten wurde bislang ebenso wenig geregelt wie die Reform der Sicherheitskräfte. Nur zwei Polizisten wurden wegen Übergriffen gegen Demonstranten zu hohen Haftstrafen verurteilt, alle anderen laufen frei herum und sind zum Großteil noch im Dienst.

Zwar wurden zwei Kommissionen eingerichtet, die sich mit Korruption und Brutalität von Sicherheitskräften befassen, ihre Ergebnisse bleiben jedoch entweder liegen oder werden unter Verschluss gehalten. Kritische Beobachter sprechen von Ablenkungsmanövern und "Augenwischerei".

Ähnliches hört man aus Marokko. Hier gibt es zwar schon seit 2004 eine "Kommission für Gerechtigkeit und Versöhnung", die Menschenrechtsverletzungen aus den Jahren 1956 bis 1999 aufarbeiten soll. Öffentliche Anhörungen, Nachforschungen in Archiven und die Aushandlung von Entschädigungen für die Opfer gehören zu ihren Aufgaben.

Das marokkanische Modell ist insofern besonders, als es dabei nicht um individuelle Schuld­zuweisung, sondern um kollektive Aufarbeitung geht. Deshalb erregte der Beginn der Arbeit der Kommission 2004 auch großes Medieninter­esse. Doch auch hier hat die Arbeit der Kommission bis heute keinerlei strafrechtliche Konsequenzen gehabt.

Andreas Jacobs

© Zeitschrift für Entwicklung und Zusammenarbeit

Andreas Jacobs arbeitet für die Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin. Von 2007 bis Mai 2012 leitete er das Büro der Stiftung in Ägypten. Er musste das Land verlassen, nachdem er angeklagt worden war, das seit über 30 Jahren bestehende Büro illegal zu betreiben.

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de