Überall glückliche Altruisten
Ein Verdacht kann viel schlimmer sein als ein Urteil, weil er viel Raum für Gerüchte und Verschwörungsmythen lässt. Die Anhänger des türkischen Predigers Fethullah Gülen können ein Lied davon singen. Wo immer sie auftauchen, wird ihnen allerlei Böses unterstellt: dass sie ein islamistischer Wolf im toleranten Schafspelz seien; dass sie die Gesellschaft islamisieren wollten; dass sie einen "Gottes-Staat" samt Scharia anstrebten.
Gleichzeitig ist in den Debatten über die Gülen-Bewegung noch ein anderes Phänomen zu erkennen: Während die Kritiker gar nicht hart genug auf die zumeist türkischstämmigen Anhänger des Predigers einschlagen können, bejubeln andere sie als ein Musterbeispiel an modernen, reformwilligen, manchmal ja geradezu liberalen Muslimen. Hier schwarz, da weiß, nirgendwo die Grautöne.
Noch aus einem anderen Grund lohnt es sich, einen genaueren Blick auf die Gülen-Bewegung zu werfen: Die Zahl ihrer Anhänger wächst weltweit. Deren Engagement lässt zugleich andere religiöse Gruppen vor Neid erblassen. Gülen stellt den "Dienst an der Gesellschaft", auf Türkisch "Hizmet" genannt, ins Zentrum seiner Predigten, weshalb die Gülen-Anhänger ihr Netzwerk lieber "Hizmet-Bewegung" nennen.
Baut Schulen, keine Moscheen
Und sie folgen Gülens Appell: Baut Schulen, keine Moscheen. Sie gründen Kindergärten, Grund-, Real- und -Hauptschulen, Gymnasien und Nachhilfeinstitute, auch in Deutschland. In Berlin entsteht gerade auf einem ehemaligen Kasernen-Gelände ein ganzer "Bildungs-Campus". Sogar von einer eigenen Universität träumen die Gülen-Anhänger hier.
Zwei Bücher haben sich vorgenommen, die Bewegung des Predigers etwas genauer zu beleuchten: Die amerikanische Religionssoziologin Helen Rose Ebaugh versucht in dem Band "Die Gülen-Bewegung", dem Enthusiasmus und den Finanzierungsmechanismen auf die Spur zu kommen; und der deutsche Journalist Jochen Thies will unter dem Titel "Wir sind Teil dieser Gesellschaft" Einblicke in die Bildungsinitiativen der Gülen-Bewegung in Deutschland geben. Damit behandeln beide Bände in der Tat wichtige Fragen. Schade nur, dass beide Bücher unter demselben Problem leiden: Ihnen fehlt die kritische Distanz zur Hizmet-Bewegung.
Bei Ebaugh fällt die Begeisterung für das Engagement der Gülen-Anhänger so stark aus, dass eine wahre Hagiographie entstanden ist – mit den üblichen Fehlern solcher Werke. Wer das Buch liest, der erlebt überall glückliche Altruisten, die nichts lieber tun, als sich für andere einzusetzen und dabei ihr letztes Hemd zu geben. Ebaugh kommt zu dem Schluss, dass es Gülen gelingt, "philantropische Dynamiken" zu bedienen, die in der türkisch-islamischen Gesellschaft bereits angelegt sind.
Belohnung im Jenseits
Die Graswurzel-Struktur der Bewegung lässt dem einzelnen viel Raum für eigenes Engagement. Die Anhänger glauben an die Ziele der Bewegung, ihre starke Spendenbereitschaft erhöht die Verbundenheit mit der Gruppe. Und sie hoffen, für ihr Engagement im Jenseits belohnt zu werden.
Damit weist Ebaugh zwar in die richtige Richtung; ihre Informationen basieren jedoch ausschließlich auf Eigenauskünften von Gülen-Anhängern, die keinerlei quellenkritischer Analyse unterzogen werden. Sie zitiert Industrielle und andere Geschäftsleute, die jährlich angeblich zwischen 40 und 70 Prozent ihre Einkünfte an Projekte der Bewegung spenden – aus rein selbstlosen Motiven versteht sich.
Welche weiteren Mechanismen dahinter stecken könnten, lässt Ebaugh außen vor. Dabei erwähnt sie zumindest beiläufig, dass in den lokalen Zirkeln der Bewegung die Spendensummen offengelegt werden. Ob dadurch ein sozialer Druck aufgebaut wird, dem man sich nur schwer entziehen kann, interessiert sie nicht. Dabei ist das eine wichtige Frage.
An anderen Stellen kommt sie zu Urteilen, ohne auch nur eine einzige solide Quelle zu nennen. Woher etwa will sie wissen, dass die meisten Aktionäre der türkischen Bank Asya, deren Gründung auf Gülen zurückgeht, noch nie etwas von dem Prediger und seiner Bewegung gehört haben? Angesichts der Popularität Gülens in der Türkei ist das doch eher unwahrscheinlich.
Zudem lässt Ebaugh einen weiteren wichtigen Aspekt völlig außer Acht: dass es sich bei dem Gülen-Netzwerk nicht nur um eine religiös motivierte, sondern vor allem auch um eine soziale Aufstiegsbewegung handelt. Hier streben die ehemals benachteiligten der Gesellschaft nach oben und formen eine neue Mittelschicht. Hier liegt ein entscheidendes Moment für das Engagement und auch den Zusammenhalt der Gülen-Anhänger.
Ganz normale Privatschulen
So erklärt sich auch, warum Bildung für sie so wichtig ist. Jochen Thies hat sich über Monate mit den Schulen der Gülen-Bewegung in Deutschland beschäftigt, mehrere Institutionen besucht und etliche Interviews mit den Beteiligten geführt. Lässt man sich von dem altväterlichen Ton des Autors nicht stören, ist ein Buch dabei herausgekommen, in dem Thies fleißig viele Informationen zu den Einrichtungen gesammelt hat.
So trägt er dazu bei, die Debatte über die Gülen-Bewegung zu entdämonisieren und die Bildungsinstitutionen als das zu zeigen, was sie sind: ganz normale private Schulen, in den die Klassen vergleichsweise klein, die Leistungserwartung an die Schüler dagegen groß ist. Der Zulauf von fast ausschließlich türkischstämmigen Schülern ist deshalb so stark, weil die Mädchen und Jungen an anderen Schulen allzu oft schlechte Erfahrungen gemacht haben – kein Ruhmesblatt für das staatliche Bildungssystem.
Das Buch leidet jedoch darunter, dass Thies ohne Erzähldramaturgie schreibt. Entscheidende Fragen beantwortet er gar nicht oder reißt sie nur knapp an. An den Gülen-Schulen etwa gibt es keinen Religionsunterricht – für christlich inspirierte Einrichtungen undenkbar. Es wäre nur allzu legitim, wenn auch die Gülen-Schulen ihre Kinder in den Grundfragen des Islam unterrichteten.
Die Einrichtungen verzichten wohl auch deswegen darauf, weil ihnen vorgeworfen werden würde, sie seien "Koran-Schulen", was bei vielen in Deutschland unangenehme Konnotationen auslöst. Unter den Eltern an den Gülen-Schulen wünscht sich offenbar eine Mehrheit einen Religionsunterricht.
Bildungsrevolution im Stillen
Es wäre interessant gewesen, das Für und Wider zu diskutieren. Thies schweigt dazu jedoch weitestgehend, genauso wie über das Verhältnis von Verantwortlichen, Lehrern, Eltern und Schülern zur Religion.
Wenig erfährt der Leser auch über pädagogische Programme, Leistungsdruck und Finanzierungsmechanismen der Schulen. Stattdessen echauffiert sich Thies lieber über die angeblich zu lässige Kleidung und die zu langen Haare von deutschen Lehrern, während die Verantwortlichen an Gülen-Schulen schon mal im Nadelstreifenanzug auftreten – oberflächlicher geht es kaum.
Geradezu absurd wird es, wenn sich Thies, warum auch immer, über Behindertenparkplätze in Deutschland aufregt oder darüber räsoniert, dass es an der Zeit wäre, "die zum Teil irrwitzig in die Höhe geschraubten deutschen Standards beim Bau" abzusenken. Was hat das mit seinem Thema zu tun?
So ist der Band letztlich eine verpasste Chance. Er wird der Bedeutung den Gülen-Bildungsaktivitäten in Deutschland nicht gerecht. Denn in einem Punkt liegt Thies völlig richtig: An den Schulen "spielt sich eine Bildungsrevolution im Stillen ab".
Jan Kuhlmann
© Qantara.de 2013
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de
Helen Rose Ebaugh: Die Gülen-Bewegung. Eine empirische Studie. Herder Verlag, Freiburg 2012, 240 Seiten
Jochen Thies: Wir sind Teil dieser Gesellschaft. Einblicke in die Bildungsinitiativen der Gülen-Bewegung. Herder Verlag, Freiburg 2013, 184 Seiten