Die Zuversicht der Reformer
"Dieser Text beschreibt die Bedingungen einer Ehe, in der der Mann seine Verpflichtungen gegenüber der Frau erfüllt und diese ehrt. Als Teil des Ehevertrags willigt der Mann ein, dass seine Frau das Recht hat, sich weiterzubilden. Er hilft ihr im Haushalt. (…) Und im Fall einer Scheidung werden die Güter zwischen Mann und Frau anteilig aufgeteilt. (…) In diesem Buch werden die Bedingungen einer gedeihlichen Ehe aufgezählt."
So heißt es in einem kleinen Band, der in der Bücherei des Ketab-Instituts in Kabul steht. Das Ketab-Institut ist eine schiitisch geprägte Privat-Universität in der Hauptstadt. Fast alles in dem kleinen Heftchen steht in deutlichem Widerspruch zu den Negativ-Schlagzeilen über Afghanistans Schiiten und über das umstrittene Ehegesetz in den vergangenen Wochen.
Soziologie und Philosophie statt Sharia
Der Westen macht es sich leicht: eine kleine Gruppe radikaler Geistlicher wird mit einem Land und seiner vermutlich fortschrittlichsten Bevölkerungsgruppe gleichgesetzt.
Tatsächlich vertreten Afghanistans Schiiten, von denen der größte Teil der Ethnie der Hazara angehört, in Fragen der gesellschaftlichen Moral vergleichsweise offen Positionen. Das Ketab-Institut, gerade einmal vor einem Jahr gegründet, ist so etwas wie die Speerspitze der säkular orientierten Schiiten in Afghanistan.
In der Bücherei stehen neben Schriften zum Zivilrecht auch Werke von Nietzsche. 700 Studenten erhalten hier Unterricht in Soziologie, Politologie, Philosophie sowie Islamstudien und Jura. Die Sharia und ihre Auslegung werden hier wohlgemerkt nicht gelehrt.
Schiitischer Kampf um Deutungshoheit
"Die Schiiten in Afghanistan sind eine dynamische Gruppe und wir lassen nicht zu, dass dieses Bild durch das neue Ehegesetz verfälscht wird", erklärt Mohammad Ahmadi zuvorkommend. Der Präsident beschreibt sein Ketab-Institut als einen wichtigen Akteur im aktuellen Streit um das Ehegesetz. Schon vor Monaten hätten er und seine Kollegen versucht, die umstrittenen Passagen zu entschärfen. Parlament, Justizministerium und der Präsidentenpalast seien in die Gespräche mit einbezogen gewesen.
Eine leicht entschärfte Version des Gesetzes-Textes, die der Frau ausdrücklich das Recht bescheinigt, das Haus eigenständig zu verlassen, sei aber bis heute nicht im offiziellen Amtsblatt erschienen.
"Karsai scheut den Konflikt mit den Konservativen", erklärt Ahmadi. "Er hat außerdem schwache Berater. Und er hat die Dimension der Sache ganz offenbar unterschätzt." Karsais Kompromiss-Kurs gegenüber konservativen Mullahs auf sunnitischer wie schiitischer Seite sei es auch, der die Taliban wieder stark gemacht habe.
Einfluss aus Teheran
Das Gegenstück zur säkularen Kateb-Universität ist das wenige hundert Meter entfernt liegende Khatam Al Nabi'in-Seminar. Der imposante Bau mit der blauen Kachel-Kuppel, die das gesamte Parlamentsviertel überragt, wird ausschließlich mit iranischen Geldern finanziert, heißt es. Der Ayatollah Mosheni, der sich den Führer der Schiiten in Afghanistan nennt, gibt hier den Ton an. Wirklich Rückhalt in der Bevölkerung genießt er nicht, das zumindest behaupten einschlägige Kreise in Kabul.
"Die Mehrheit der afghanischen Schiiten lehnen Moshenis Führungsanspruch ab", meint beispielsweise Ali Karimi, Dozent an der Universität Kabul. "Er hat eine Vergangenheit als Mujahed-Kämpfer und er ist ein Paschtune. Wie Präsident Karsai stammt er aus Kandahar. Die meisten Schiiten sind Hazara und trauen ihm nicht."
Ali Amiri, von der Kateb-Hochschule, teilt diese Einschätzung: "Mosheni steht für eine politisch-ideologische Auslegung des Islam wie sie im Iran praktiziert wird. Er hat dort zwanzig Jahre im Exil gelebt."
"Die Reform wird kommen"
Amiri und seine Kollegen sind zuversichtlich, dass das Gesetz bis kommenden Monat entschärft wird. "Wie es aussieht, wird es zu einer Reform kommen. Wir sind uns da sicher." Erste Gespräche mit einflussreichen Politikern, der Schlichtungskommission sowie dem Justizminister deuteten darauf hin. Demnach sollen 10 Artikel aus dem Gesetzestext herausfallen, darunter die umstrittenen Passagen, darüber hinaus sollten 20 Artikel überarbeitet werden.
Neben den Punkten, die international für Aufsehen sorgen, macht sich die Ketab-Universität u.a. für das Recht der Frau stark, sich ihren Ehepartner unabhängig vom Willen des Vaters auszusuchen. Auch das unveränderte Recht auf Grund- und Boden für Eigentümer, die als drogenabhängig gelten, steht auf der Streichliste.
Ein 'neues' Schiitentum
Die Dozenten an der Kateb-Hochshule setzen sich allesamt für eine moderne, rationale Auslegung des Islam ein. "Die jungen Menschen haben viele Fragen an den Islam und ihre eigene Religion", so Amiri. "Wir müssen sie argumentativ überzeugen, nicht mit Traditionen und Ritualen."
"Der heilige Koran sagt: sei gut zu deiner Frau", zitiert Instituts-Leiter Mohammad Ahmadi das heilige Buch, auf das sich auch seine Rivalen berufen. Es scheint, als stehe die Auseinandersetzung um ein neues Schiitentum in Afghanistan erst am Anfang.
Martin Gerner
© Qantara.de 2009
Martin Gerner ist freiberuflicher Journalist mit dem Arbeitsschwerpunkt Afghanistan. Er berichtet für verschiedene deutsche Medien, u.a. für den Deutschlandfunk, den WDR und die Süddeutsche Zeitung.
Qantara.de
Erstmals Gouverneurin in afghanischer Provinz
Akzeptanz durch Pragmatismus
In Afghanistan steht seit Anfang März erstmals eine Frau an der Spitze einer Provinz. Präsident Hamid Karsai ernannte Habiba Sorabi zur Gouverneurin der Provinz Bamian. Die Ernennung wird im Westen begrüßt, ist aber in der traditionellen Gesellschaft des Landes durchaus umstritten. Einzelheiten von Said Musa Samimy
Verfilmung von Khaled Hosseinis "Drachenläufer"
Hollywood auf Dari
Mit "Drachenläufer" hat Khaled Hosseini einen Welterfolg gelandet. Bei der Verfilmung seines Romans war man um Authentizität bemüht. Dennoch erhitzt der Film vor allem in Afghanistan die Gemüter. Amin Farzanefar berichtet.
Justiz in Afghanistan
Viele Frauen kennen ihre Rechte nicht
In Afghanistan bestehen drei Rechtssysteme nebeneinander: das staatliche, das traditionelle und das islamische. Während die Verfassung ausdrücklich internationale Standards wie die UN-Menschenrechts-Charta betont, spielen sie für herkömmliche Ältestenräte keine große Rolle. Die Bevölkerung richtet sich indessen überwiegend nach deren Urteilen und misstraut staatlichen Institutionen. Von Michael Nienhaus