Eidgenossen gegen die Welt
In der Schweiz darf man künftig also nur mehr hinterziehen, aber nicht mehr hinziehen. Was sich als launiger Kalauer ganz gut liest, wird in der Realität natürlich nicht so heiß gegessen wie gekocht werden. Drei Jahre hat die Regierung in Bern jetzt Zeit, die Volksabstimmung "Nein zur Masseneinwanderung" umzusetzen - und das ist auch viel Zeit für pragmatische Lösungen, wie etwa Einwandererkontingente oder gar eine neue Volksabstimmung.
Denn "Nein" zur Zuwanderung hat die Schweiz ja nicht gesagt, sondern nur "Ja" zu einer Reduzierung von Zuwanderung. Das ist schon etwas anderes, vor allem wenn man weiß, dass die kleine Schweiz in den letzten Jahren eine Nettozuwanderung von 80.000 Personen hatte. Bei einer Einwohnerzahl von acht Millionen ergibt das in einem Jahrzehnt ein Bevölkerungswachstum von zehn Prozent.
Daraus folgen natürlich objektive Probleme, etwa am Wohnungsmarkt. Kurzum: Auf die Idee, hier die Zuwanderung bremsen zu wollen, kann man schon kommen, auch wenn man kein ressentimentgeladener Ausländerfeind ist. Die Zuwanderungsquote Deutschlands ist - in Relation - gerade einmal halb so groß, die von Österreich noch etwas niedriger.
Aber man soll dieses Votum auch nicht missverstehen: Diese "objektiven" Probleme mit der Zuwanderung haben wohl die meisten derer, die die Anti-Zuwanderungsinitiative unterstützen, nicht unbedingt motiviert. Sieht man sich die Ergebnisse im Detail an, dann war die Zustimmung in jenen Regionen und Landesteilen besonders hoch, in denen es praktisch kaum Zuwanderung gibt. Dagegen haben jene Landesteile und Ballungszentren, auf die sich die Zuwanderung konzentriert (und deren Bürger etwa die negativen Auswirkungen am Wohnungsmarkt spüren sollten), mehrheitlich gegen die Initiative gestimmt. Andererseits: Auch hier hat eine relativ starke Minderheit dafür gestimmt.
Ein mehrheitlich rechter Zeitgeist
Die Motivlage ist wohl vielschichtig: Der Zeitgeist in der Schweiz ist mehrheitlich rechts, die rechtspopulistische SVP und die mit ihr verbündeten Medien vergiften die öffentlichen Diskurse. Ein Teil derer, die zugestimmt haben, taten dies wohl, weil sie schlicht "gegen Ausländer" sind. Freilich richtet sich die "Ausländerfeindlichkeit" in der Schweiz, anders als etwa hierzulande, nicht "bloß" gegen unterprivilegierte Zuwanderer, sondern auch gegen privilegierte. Simpel und grob gesagt: Nicht nur der pakistanische Asylbewerber, auch der deutsche Akademiker, der in Zürich eine Professorenstelle ergattert, ist in der Schweiz Objekt des Ressentiments.
Zudem sind die "Personenfreizügigkeit" und die offenen Grenzen in den Köpfen der Schweizer natürlich untrennbar mit der Europäischen Union verbunden, und Anti-EU-Ressentiments sind in der Schweiz heute sehr weit verbreitet. Nicht einmal Anhänger der Europäischen Union werben heute in der Schweiz noch offensiv für ihre Position - weil sie wissen, dass es ohnehin keinen Sinn hat. Einen EU-Beitritt der Schweiz, das können sich heute höchstens noch 20 Prozent der Bürger vorstellen. Die große Mehrheit ist teils verhalten reserviert, wenn nicht gar ostentativ EU-feindlich.
Das nimmt nicht selten paranoide Züge an: Aber für viele Schweizer ist die EU tatsächlich so etwas wie ein Empire, das einen Belagerungsring um das Land zieht. Die EU, das sind etwa diese großmauligen Deutschen, die den Schweizern sagen wollen, wie sie ihre Dinge regeln sollen. Dagegen spitzt sich der an sich liebenswerte Schweizer Widerstandsgeist an. Gegen die offenen Grenzen zu stimmen, da war wohl auch eine Prise "gegen die EU"-stimmen dabei.
Die Schweiz ist eigen: In ihrer Identität, dem Selbstbild ihrer Bürger, ist sie die kleine Bergwelt-Eidgenossenschaft, die sich immer behauptet hat gegen Größere, gegen die Welt da draußen, und das gerade mit und wegen ihrer Spleens getan hat, etwa wegen ihrer ulkigen Form direkter Demokratie.
Ein Opfer der Großen
Die andere Seite dieser Medaille ist eine Art selbstgerechte Gemeinheit, zu der die Schweizer auch fähig sind, die selbstgerechte Gemeinheit dessen, der sich als verfolgte Unschuld sieht, des Kleinen, der sich am liebsten als Opfer der Großen sieht und es als himmelschreiende Ungerechtigkeit ansieht, wenn er selber Mist baut und dafür ausgeschimpft wird. All das spielte bei dieser Abstimmung wohl hinein, durchaus liebenswerte Dinge vermischten sich mit eher niederträchtigen Motivationen und verrührten sich zu einem Abstimmungsergebnis, das mit 50,3 Prozent auch noch denkbar knapp war.
Das Abstimmungsergebnis selbst wirft natürlich noch eine Reihe kniffliger Fragen auf. Grundsätzlich ist es, anders als etwa bei der "Anti-Minarett-" und der "Ausschaffungs"-Initiative (bei der es um beschleunigte Abschiebungen) ging, keine Frage, dass die nunmehrige Abstimmung mit dem Minderheitenschutz nicht in Widerspruch steht. Die direkte Demokratie kann ja leicht mit dem Minderheitenschutz in Konflikt kommen, wenn eine Mehrheit beschließt, eine Minderheit zu diskriminieren. In diesem Fall ist das natürlich nicht so sehr der Punkt: Nicht-Schweizer, die noch nicht zugewandert sind, deren künftige Zuwanderung man ja verhindern will, sind ja noch keine Minderheit, die man diskriminieren kann.
Viel komplizierter ist die Sache in Hinblick auf die Integration der Schweiz in den EU-Binnenmarkt. Die Schweiz hat mit einer Reihe von Verträgen praktische Gleichbehandlung innerhalb des EU-Binnenmarktes erreicht. Die Personenfreizügigkeit, also auch das Recht aller EU-Bürger, in die Schweiz zu ziehen, ist ein integraler Bestandteil dieser Verträge. Die Schweiz kann also nicht so einfach nur den einen Aspekt dieser Vertragsarchitektur aufkündigen, der ihr nicht passt, und glauben, die anderen Aspekte bleiben intakt.
Im Grunde könnte man der Schweiz jetzt einfach sagen: So, liebe Freunde, geht das nicht. Von Seiten der EU-Spitzen hält man sich da freilich noch ein bisschen zurück, denn dass würde erst recht als jene EU-Befehlegeberei erscheinen, gegen die zu blöken die Schweizer so geübt sind.
Robert Misik
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