Der Schleier des Schweigens

In Ägypten hat die Anzahl sexueller Übergriffe in jüngster Zeit stark zugenommen, insbesondere in Kairo. Frauenorganisationen setzen sich zu Wehr, doch das Problem sitzt tief.

Von Katharina Goetze

Wie für jede andere Frau in Ägypten, gehörte auch für Nihad Abul-Qumsan sexuelle Belästigung zum Alltag. Dass aber jemand eine Schwangere im neunten Monat behelligen würde, hatte sie nicht erwartet.

Dann, bei einem Spaziergang durch ihr Viertel, den chicen Kairoer Vorort Maadi, wurde sie plötzlich von einem fremden Mann verfolgt, der ihr Schlüpfrigkeiten zuflüsterte und sie auf eine Spritztour in seinem Auto einladen wollte.

Jeder, der Frau Abul-Qumsan je begegnet ist, wird es für unmöglich halten, sie zu verdächtigen, solche Aufmerksamkeiten zu provozieren. Ägyptens prominenteste Feministin ist eine respektable Frau – die erfolgreiche Anwältin und dreifache Mutter kleidet sich zurückhaltend und trägt in der Öffentlichkeit einen Schleier.

Kultur der Belästigung

Und dennoch, wie die 36-Jährige jetzt weiß, ist in Ägypten niemand vor sexuellen Übergriffen gefeit – das Problem ist mittlerweile allgegenwärtig. Dabei reicht das Spektrum von Pfiffen und vulgären Nachrufen bis hin zu Handgreiflichkeiten und Vergewaltigung.

Doch in einer Gesellschaft, in der Sex weitgehend ein Tabuthema ist, werden meist die Frauen verdächtigt, die andere Hälfte zur Zügellosigkeit zu verführen.

Diese Einstellung soll sich aber bald ändern, denn unter der Leitung von Frau Abul-Qumsan hat das Ägyptische Zentrum für Frauenrechte (ECWR) Initiative ergriffen. Eine bahnbrechende Kampagne will den Schleier des Schweigens lüften, unter dem, wie das ECWR es ausdrückt, eine "Kultur der Belästigung" entstanden ist.

Teil der Initiative sind Aktionstage, sowie eine Videokampagne, die Schulkinder über das Thema aufklären soll. Darüber hinaus haben ECWR-Freiwillige Ägyptens erste landesweite Studie durchgeführt, in der 2.500 Frauen über ihre Erfahrungen mit sexueller Belästigung befragt wurden.

Das Fazit muss ein Alarmsignal für all jene sein, die noch immer glauben, dass allein diskrete Kleidung garantiert, in der Öffentlichkeit nicht belästigt zu werden.

Ein allgegenwärtiges Problem

"Tatsache ist, dass absolut jeder davon betroffen ist. Die Frage ist nicht, wo oder wer du bist, noch nicht einmal, was du anziehst. Frauen, die den Hidschab oder Neqob (Gesichtsschleier) tragen, werden ebenso belästigt wie unverhüllte Frauen oder Ausländerinnen", sagt Angie Ghozlan, eine frisch graduierte Studentin der Cairo University, die seit einem Monat Projektleiterin der Kampagne ist.

Die 22-Jährige ist in Kairo aufgewachsen und zahllose Male auf der Straße oder in öffentlichen Verkehrsmitteln angegrapscht worden. Nicht einmal in ihrem eigenen Auto fühlt sie sich sicher, sagt sie, denn wenn sie an einer Ampel anhält, wird sie auch angestarrt.

Doch es waren nicht ihre eigenen Erfahrungen, sondern die Ereignisse des Eid-Festes im letzten Jahr, die sie dazu brachten, zur Tat zu schreiten und ECWR-Freiwillige zu werden.

Übergriffe auf Frauen zum Eid-Fest

Während ganz Ägypten das Ende des Fastenmonats feierte, gingen Horden von Männern in der Kairoer Innenstadt wahllos auf Frauen los, und rissen ihnen die Kleidung und Schleier vom Leibe.

Obwohl die staatlichen Medien leugneten, dass die Vorfälle sexuelle Belästigung darstellten, war es schwierig, die Berichte der Frauen zu enthärten, da Blogger Fotos der Szenen bereits im Internet veröffentlicht hatten.

Die Geschichte machte Schlagzeilen und rüttelte die konservative ägyptische Gesellschaft auf.

"Als ich diese Bilder im Netz sah, weinte ich", sagt Angie Ghozlan. "Ich fühlte mich, als würde etwas in mir explodieren. Ich dachte, dass wir Frauen keinen Wert haben und ich das nicht mehr ertragen kann."

Nun will sie sich dafür einsetzen, dass das Problem wahrgenommen wird und Frauen das Selbstbewusstsein entwickeln, sich weder schuldig zu fühlen noch sich zu schämen, über ihre Erlebnisse zu sprechen.

Sexuelle Frustration bei Männern

Finanzielle Schwierigkeiten und familiärer Druck sind Teil der Gründe, die ägyptische Männer auf die Straße treiben, wo sie ihren Frust an Frauen ablassen. Eine hohe Arbeitslosenrate und daraus resultierende Geldnöte verringern die Chancen, jung zu heiraten, und sorgen für sexuelle Frustration.

Eine wichtige Rolle wird auch dem Satellitenfernsehen beigemessen, das den Graben zwischen dem, was junge Männer sehen, und wie sie wirklich leben, vergrößert.

Und die Täter werden immer jünger: Zahlreiche Frauen berichteten, dass mittlerweile selbst Grundschulkinder herumliefen, auf der Jagd nach weiblichen Hinterteilen.

"Es gibt eine Menge Theorien, warum Männer Frauen belästigen, aber wir wollen keine Sündenböcke. Wenn wir mit Männern über unsere Arbeit sprechen, sind sie meist sehr daran interessiert, uns zu helfen", sagt Rebecca Chiao vom ECWR.

Selten kommt es zur Anzeige

Obwohl sogar verbale Belästigung in Ägypten mit einer Gefängnisstrafe von einem Jahr geahndet werden kann, gibt es kaum Fälle, die je vor Gericht kommen. "Weniger als zwei Prozent aller Frauen bringen Belästigung zur Anzeige. Sie haben kein Vertrauen in das System und fürchten, dass ein Gerichtsverfahren die Dinge nur verschlimmern würde", sagt Abul-Qumsan.

Eine Gesetzesänderung könnte Teil der Lösung sein, findet Ahmed Samih, einer der Aktivisten, die sich für die Rechte der Frauen engagieren – aber was, wenn die Gesetzeshüter selbst die schlimmsten Täter sind?

"Die Uniform gibt Soldaten und Polizisten Macht und macht sie unantastbar, deshalb glauben sie, sie können Frauen belästigen und ungestraft davonkommen", sagt der 28-Jährige.

Noch besorgniserregender findet er jedoch, dass sexuelle Übergriffe und Vergewaltigung eine beliebte Waffe im Kampf gegen politische Gegner geworden sind. Aktivisten wie der Blogger Muhammad Al-Sharqawi behaupten, in Haft von Offizieren sexuell misshandelt worden zu sein.

"Auf der einen Seite sprechen wir immer über religiöse Moral, auf der anderen Seite belästigen einige Leute unaufhörlich den Rest", sagt Abul-Qumsan. "Diese Doppelmoral ist unerträglich."

Katharina Goetze

© Qantara.de 2007

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