Frauen für den Frieden
Wenn Peta Jones Pellach von dem "wunderbaren Ereignis" schwärmt, stellt sich unmittelbar das Gefühl ein: Da hat man was verpasst. Weit über tausend Frauen, israelische und palästinensische, hatten sich an jenem 4. Oktober zu einer Art feministischem Happening der Friedensbewegung versammelt, in Jerusalem und am Toten Meer. Allüberall sind auf den Fotos von jenem denkwürdigen Tag die türkisblauen Tücher der Israelinnen von "Women Wage Peace" (WWP) und die leuchtendgelben der Palästinenserinnen von "Women of the Sun" (WOS) zu sehen, meist in bunt gemischten Runden voller strahlender Gesichter.
Es galt schließlich, ihren Partnerschaftspakt zu feiern, genannt "Mother’s Call", in dem es heißt: "Uns vereint der menschliche Wunsch nach einer Zukunft in Frieden, Freiheit, mit gleichen Rechten und Sicherheit für alle." Ein einleuchtender Grundsatz zur Lösung des Nahost-Konflikts. Viele Frauen waren dafür und sie fühlten sich stark. "Wir waren so voller Hoffnung", sagt Peta Jones Pellach, eine fromme Jüdin und siebzigjährige "Women Wage Peace"-Aktivistin. "Wir fühlten uns, als ob der Frieden gleich um die Ecke sei.“
Eine Illusion, die drei Tage später, am 7. Oktober 2023, der als Schwarzer Sabbat in die Annalen des Nahost-Konflikts eingehen sollte, in grausamer Weise zerplatzte. Da Jones Pellach den jüdischen Ruhetag strikt einhält, erfuhr sie die Schreckensnachrichten vom brutalen Terrorangriff der Hamas im Süden Israels erst spät. Von achtzig Toten war da noch die Rede. "Die erste Zahl, die ich nach Sabbatende hörte", erzählt sie. "Ein schrecklicher Schock."
Das Erbe von Vivian Silver
Dabei war das wahre Ausmaß der Massaker in den an Gaza grenzenden Kibbuzim und auf einem Rave-Festival nahebei mit insgesamt rund 1200 Todesopfern zu dem Zeitpunkt noch längst nicht absehbar. Auch nicht, wie viele Menschen von dort, Israelis und andere, als Geiseln nach Gaza verschleppt worden waren. Unter ihnen, wie es hieß, Vivian Silver, eine charismatische Friedenskämpferin und Gründungsmitglied von “Women Wage Peace”.
Doch eines entschieden ihre Anhängerinnen sofort: Wir stehen zu den Familien der Geiseln und wir halten den Kontakt zu den verbündeten Palästinenserinnen, die Vivian geradezu verehrten. Noch am gleichen Abend schalteten sich die Frauen von “Women Wage Peace” und “Women of the Sun” zusammen.
"Vivian wird denen in Gaza sicher die Meinung geigen", erinnert sich Jones Pellach beim Interview an ihrem Arbeitsplatz im Zentrum Jerusalems, wie sie sich gegenseitig zu beruhigen versucht hatten. Aber die Sorge wuchs, je mehr Zeit verging.
Erst Mitte November, fünf Wochen nach dem Hamas-Überfall, erfuhren sie, dass Vivian Silver nie wieder zurückkehren würde. Als ihre bis zur Unkenntlichkeit verkohlte Leiche anhand von DNA-Spuren identifiziert worden war. Die 74-Jährige mit israelischem und kanadischem Pass gehörte zu den zehn Prozent der Einwohnerschaft im Kibbuz Be’eri, die das Massaker nicht überlebt hatten.
Zu ihrer Beerdigung erschien eine hundertfache Gefolgschaft jüdischer und arabischer Israelis, um ihr die letzte Ehre zu erweisen. Vielen sprach ihr Sohn Jonathan aus dem Herzen, als er in bewegenden Worten Abschied nahm. Vivian hätte wohl gesagt, meinte er, das Geschehen sei ein Resultat der Tatsache, dass man keinen Frieden zwischen Israelis und Palästinensern geschlossen habe.
Opfer auf beiden Seiten
Auch Reem Alhajara, eine moderne Muslimin, die Kopftuch mit Leggings kombiniert, wäre gerne persönlich zu der Trauerfeier gekommen, aber als Westbank-Palästinenserin konnte sie nur in Gedanken dabei sein. "Vivian verkörperte eine große Menschlichkeit, sie war wie wir“, sagt die Vorsitzende von “Women of the Sun”.
Seit dem 7. Oktober sind die palästinensischen Autonomiegebiete strikter denn je abgeriegelt. Direkte Begegnungen zwischen den beiden Frauenorganisationen sind nach wie vor unmöglich. Jonathans Message, Vivians Weg fortzusetzen, hat Reem trotzdem vernommen und ermutigt.
Weitermachen. Das ist alles andere als leichthin gesagt. Von den israelischen Frauen bei Women Wage Peace wurden neben Vivian Silver zwei weitere Opfer des Hamas-Überfalls. In dem verheerenden Gaza-Krieg wiederum verloren mindestens 32 Frauen von "Women of the Sun" ihr Leben, wenn nicht noch mehr. "Wir haben keinen Schimmer, wen es von unseren 300 Mitgliedern in Gaza wohin verschlagen hat", fügt Reem Alhajara hinzu. "Per Internet und Handy kommen wir nur noch ab und an nach Gaza durch."
Im vierten Stock eines alten Gebäudes an der Hauptstraße in Bethlehem leitet die 42-Jährige zusammen mit der vier Jahre jüngeren Marwa Hamad hauptberuflich das Büro der palästinensischen Frauen-NGO. Ihre Arbeit wird von projektgebundenen Geldern aus Europa, USA sowie Privatspenden unterstützt. Zum Programm gehören Trauma-Workshops, Kurse in Erster Hilfe, Umweltweltschutz und Empowerment für Frauen.
Das eigentliche Ziel, Friedensgespräche zu erzwingen, steht vorerst, solange Krieg herrscht, hintenan. Als “Women of the Sun” halten sie dennoch daran fest. Auch wenn manche einwenden, „wie können wir uns mit den Israelis noch einen Tisch setzen“ – angesichts des Ausmaßes an Leid, Tod und Zerstörung in Gaza. Weit mehr denken dennoch „wie wir“, betonen Reem und Marwa, nämlich dass „Frieden die einzige Lösung ist, wenn unsere Kinder eine Zukunft in diesem Land haben sollen“.
Es war denn auch die Sorge um ihren Sohn, damals im Teenageralter, die Reem Alhajara motiviert hat, aktiv zu werden. Sie ist gelernte Sozialarbeiterin, in Deheishe aufgewachsen, dem größten palästinensischen Flüchtlingslager in Bethlehem. Ein Ort, in dem die Kids in beengten Verhältnissen und gewalttätiger Atmosphäre aufwachsen. Einige starben bei Zusammenstößen mit israelischen Soldaten, auch der Freund ihres Sohnes, andere wurden verhaftet. „Meine erste Idee war, wir müssen unsere Kinder schützen“, erzählt Alhajara. „Darum geht es doch jeder Mutter.“
Also initiierte Alhajara vor drei Jahren mit Gleichgesinnten eine Fraueninitiative für Friedenserziehung, genannt “Women of the Sun”, in Anlehnung eines Romans von Marwan Kanafani mit dem Titel „Men in the Sun“. Heute zählt die Initiative 3000 Mitglieder in Gaza, Ost-Jerusalem und in der Westbank.
Hass und Schmerz sitzen tief
Jede von ihnen, so ihr Credo, kann ihre Stimme in der Familie, in ihrer Umgebung erheben. Einwände einiger Männer gegen ihr Engagement wischt Alhajara selbstbewusst mit einem Lachen beiseite. "Die sollen sich damit abfinden." Schließlich sei es ihr Ziel, in zehn Jahren weibliche Führungskräfte in der Politik zu haben.
Bei aller Zuversicht, Alhajara will nichts beschönigen. "Als der Krieg ausbrach, haben viele Palästinenser noch die Hamas für ihre Taten bewundert", sagt sie. So wie zu Beginn bei den allermeisten Israelis der Ruf nach Rache verfing und nur wenige an Benjamin Netanjahus vollmundigem Versprechen vom "totalen Sieg über die Hamas" zweifelten.
Erst allmählich macht sich Ernüchterung breit. Aber der gegenseitige Hass sitzt tief und auch der Schmerz, so Alhajara, "den sie und wir empfinden. Es wird schwer werden, beides zu überwinden."
Frieden – das klingt utopischer denn je. Der in den 1990er Jahren noch gefeierte Osloer Friedensprozess gilt eh schon lange als gescheitert. Alle Versuche, ihn wiederzubeleben, schlugen fehl. Israels Siedlungsausbau im Westjordanland, Militärrazzien, aber auch palästinensische Anschläge sowie Attacken militanter jüdischer Siedler ließen schon vor dem mörderischen 7. Oktober die Hoffnung auf friedliche Koexistenz schwinden.
Keine Sicherheit auf militärischem Weg
Nur, was wäre denn die Alternative? "Die Leute sehen doch, dass Gewalt nur Gewalt erzeugt", meint Marwa Hamad, im Büro der "Women of the Sun" zuständig für internationale Kontakte. "Wenn der Gaza-Krieg nicht die beiden Seiten zur Einsicht bringt, was muss dann noch geschehen?"
Ein Gedanke, den ihre israelische Partner-NGO "Women Wage Peace" teilt. Gegründet vor zehn Jahren, nach dem Gaza-Krieg 2014, ist sie inzwischen auf 44 000 Mitglieder angestiegen. Ihre Stärke rührt nicht zuletzt daher, dass alle willkommen sind, denen es um eine Friedenslösung geht.
Ob links, rechts, strengfromm oder säkular. Sich austauschen, statt sich abzugrenzen, lautet das Motto von "Women Wage Peace". Das ist auch ein Herzensthema von Peta Jones Pellach, die allmonatlich eine israelisch-palästinensische Frauengruppe moderiert, um zu diskutieren, "wie wir Religionen als Friedensstifter nutzen können".
Derzeit ist das nur online möglich. Aber auf den nahezu täglichen Demonstrationen in Israel gegen die Netanjahu-Regierung und für einen Geisel-Austausch ist der “Women Wage Peace"-Block eine feste Größe. "Unser harter Kern ist entschlossener denn je", sagt die aus Australien eingewanderte Peta Jones Pellach. "Je länger der Krieg andauert, desto mehr Leute erkennen, dass Sicherheit auf militärischem Weg nicht zu erreichen ist."
Bloß nicht aufgeben
Nie zuvor war auch das Interesse im Ausland, vor allem in Europa und den USA, so groß an den israelischen und palästinensischen Frauen an der Friedensfront. Ihr gemeinsamer "Mother’s Call", der "Aufruf der Mütter", hat dank internationaler Unterstützung gerade in den letzten Monaten tausendfach Unterschriften hinzugewonnen. Appelliert wird darin an die politischen Verantwortlichen, sich schleunigst an den Verhandlungstisch zu begeben, um den Konflikt im Sinne eines gerechten Friedensabkommens zu beenden.
Auf einen genauen Fahrplan dorthin, eine "Roadmap for peace", wird im WWP-Programm bewusst verzichtet. Entwürfe für Frieden in Nahost füllen eh die Schubladen. "Ob Zwei-Staaten, ein Staat oder multiple Staaten ist uns egal", sagt Jones Pellach. Hauptsache, beide Völker könnten damit leben.
Dass man bis dahin einen langen Atem braucht, ist den israelischen und palästinensischen Friedenskämpferinnen nur allzu bewusst. Ihr Einsatz, um das wahnsinnige Blutvergießen zu stoppen, erfährt allerdings schon jetzt enorme Resonanz. Das Zentrum für Konfliktforschung der Vrije-Universität in Amsterdam nominierte “Women Wage Peace” und “Women of the Sun” gemeinsam für den Friedensnobelpreis.
Das Time Magazin ernannte ihre führenden Repräsentantinnen, Yael Admi und Reem Alhajara, zu den zwölf einflussreichsten Frauen 2024. Erst kürzlich erhielten die beiden Frauenorganisationen zudem gemeinsam den Günter-Wallraff-Preis für Pressefreiheit und Menschenrechte.
All das stärkt diesen Frauen den Rücken. Gebt bloß nicht auf.
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