Die Mystik zweier Welten
Es mag zunächst weit hergeholt klingen: Norwegische Kirchenhymnen werden mit der afghanischen Sprache Paschtu neu eingekleidet und wechseln sich ab mit Texten des persischen Mystikers Rumi, die wiederum auf Englisch gesungen werden. Doch je tiefer die Beschäftigung mit spirituellen Traditionen, desto mehr lösen sich Grenzen auf, werden Parallelen von Islam und Christentum spürbar.
Gerade mit musikalischem Fokus kann eine solche Verschränkung zu einem beglückenden Resultat führen. So wie bei "What Was Said", dem gemeinsamen Album der deutsch-afghanischen Sängerin Simin Tander mit den beiden norwegischen Musikern Tord Gustavsen und Jarle Vespestad.
Für ihre feinfühligen Jazzkompositionen, die sie auf den beiden Alben "Wagma" und "When Waters Travel Home" mit ihrem Quartett veröffentlicht hat, wird die Kölner Sängerin Simin Tander mittlerweile in ganz Europa geschätzt, ebenso für ihre Teilnahme an der kulturenübergreifenden Bigband "Eurasians Unity" mit Musikerinnen von Taschkent bis Deutschland.
Für ihr neues Projekt geht sie ganz nach innen, entdeckt Klangräume der Stille. Ihr Partner am Piano ist dabei ein Spezialist für gerade diese Innerlichkeit. "Tord Gustavsen schafft es auf eine ganz natürliche Art, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, auf kleine Melodien, auf einen einzigen Ton. Er fühlt sehr schnell den Kern eines Stückes. Es ist ein Traum, mit einem Pianisten zu spielen, der jeden Atemzug von einem mitnimmt und trotzdem Freiraum gibt", so Tander im Interview mit Qantara.de.
Neuinterpretation von mystischen Traditionen
Schritt für Schritt setzten sich die Puzzleteile dieses besonderen spirituellen Aufeinandertreffens zusammen: Gustavsen, in ein protestantisches Umfeld hineingeboren, sammelte von klein auf Erfahrung mit Kirchenmusik. Er erschloss sich einen liberalen Umgang mit dem Christentum, entwickelte ein Interesse für mystische Traditionen verschiedenster Kulturen und beschäftigte sich in diesem Zuge auch mit Sufigedichten.
Tander ist seit ihrem Studium mit Gustavsens Arbeit vertraut, er wiederum schätzt ihre Stimme und ihren Ansatz, Jazziges auf Paschtu, der Sprache ihres Vaters zu singen. Und der Klang dieser Sprache war auch die Initialzündung für die gemeinsame Arbeit: Die Übertragung ins Paschtu ermöglicht es, die alten Hymnentexte, die von Pastoren, Professoren und Pädagogen im 18. und 19. Jahrhundert auf traditionelle norwegische Melodien gedichtet wurden, auf eine universelle Ebene zu heben.
"Tord wollte die Texte aus ihren konservativen Fesseln heben, sich auf das mystische Potenzial konzentrieren", so Tander. "Und für mich war es wichtig, dass die Verse so verändert werden, dass auch ich ohne den engen Bezug zur christlichen Lehre eine Verbindung dazu aufbauen kann."
In sensibler Detailarbeit entstand die Übertragung: Gustavsen ließ seine Neuinterpretation vom afghanischen Lyriker B. Hamsaaya übersetzen, Naqib Sermelwall, ein langjähriger Bekannter der Familie Tander, der sich seit Jahrzehnten intensiv mit paschtunischer und sufistischer Lyrik und Literatur auseinandersetzt, balancierte noch einzelne Worte aus. Wer nun zum Beispiel die Neufassung einer ehemals evangelisch-lutherischen Hymne von Peter Jacobsen Hygom mitliest, erfasst die Verschmelzung mit dem Göttlichen so, wie sie auch der persische Mystiker Jalal al-Din Rumi hätte beschreiben können.
Tanders hauchende, suggestive Vokalkraft öffnet dafür die meditativen Räume in intimer Dynamik mit den reduzierten Pianolinien. Fantasiereiche rhythmische Impulse kommen vom Schlagwerker Jarle Vespestad. "Für mich ging es auch darum, dass ich mich traue, Sachen weg- und Pausen zuzulassen, in einen Sound einzutauchen, voller Ruhe. Vor zwei Jahren hätte ich das noch nicht gekonnt. Im Zentrum steht die Hingabe, ohne den Hauch von etwasForciertem."
Übergreifende Spiritualität statt "Culture Clash"
In dieser Grenzen auflösenden Spritualität sei es nicht einmal mehr wichtig, dass das Paschtu im islamischen Kulturraum beheimatet sei, meint Tander. "Da die allermeisten Hörer die Worte nicht verstehen, erschließen sie sich das Kontemplative über die Klänge." Im Umkehrschluss wurde für die ergänzenden Songs, die auf Texten von Rumi basieren, ebenfalls nicht die Originalsprache, sondern die englische Übertragung von Coleman Barks gewählt.
Gustavsen hat die Rumi-Poesie eng am Wortrhythmus vertont, und so eine rezitative Atmosphäre geschaffen. In ihr wirkt die Dichtung ganz unmittelbar. Etwa im Titelstück "What Was Said": Die Hingabe an das Göttliche wird beschrieben als die Kraft, die eine Rose dazu bringt, sich zu öffnen und eine Granatapfelblüte dazu, zu erröten.
Es ist bezeichnend für die Offenheit dieses Projekts, dass im Zentrum der CD schließlich noch ein Gedicht steht, dass überhaupt nicht auf religiösem Nährboden angesiedelt ist: "I Refuse" geht auf den amerikanischen Lyriker Kenneth Rexroth zurück, der der Beat Generation zugerechnet wird. Seine Verse verkörpern einen unbedingten Freiheitswillen, einen Ungehorsam gegenüber den Vorstellungen anderer - und entsprechen damit auch wieder einer Geisteshaltung, die die eigene spirituelle Erfahrung über Lehrsätze und Bücher stellt.
Sufismus und christliche Mystik in Eintracht - in einer Zeit, in der das Gespenst des Culture Clash omnipräsent umherschwirrt, kann das auch ein Signal sein. Doch Tander relativiert: "Wir wollen das nicht explizit kommunizieren", betont sie. "Vielmehr als um politische Zeichen geht es uns um einen leidenschaftlichen und persönlichen Bezug zum Thema Spiritualität, der in der Musik weiterfließt."
Wer sich in diese Musik mit einer großzügigen Auszeit versenkt, der kann die tiefe Leidenschaft der drei Künstler erfahren. Eine Leidenschaft, die sich aus dem Göttlichen in jedem von uns nährt.
Stefan Franzen
© Qantara.de 2016