Unbekannte Heimat
"Ich verwandelte mich in Tau und schlief auf der Blume des Morgens, müde und erschöpft schlummerte ich im Schoß deines Blicks. Heute nahmst du mich mit zu den Himmeln, mit einem Lächeln." Mit diesen Zeilen eröffnet Simin Tander ihre CD "Where Water Travels Home". Noch in der Übersetzung klingen sie delikat, gerade zu höfisch.
"Wer sich bei den Paschtunen für Kunst interessiert, der begeistert sich vor allem für Gedichte", so Tander. „Paschtunische Lyrik ist immer bilderreich und sie hat einen ganz hohen Stellenwert, viel wichtiger als Musik." Diese Worte dennoch mit Tönen zu vereinen, das ist der Fokus auf ihrem zweiten Werk. Für die Sängerin ist es eine Reise zu einem Zuhause, das bisher unentdeckt in ihr wartete.
Simin Tander wächst in Köln auf. Ihr Vater, als Chef der Kabuler Presseagentur eine tragende Persönlichkeit im politischen Geschehen Afghanistans, war zu Studienzwecken nach Deutschland gekommen, arbeitete auch bei der Deutschen Welle. Er stirbt früh, Simin ist vier Jahre alt. Dass er auch Gedichte und Erzählungen geschrieben hat, erfährt sie erst viel später.
Ideelle Wegbegleiter
Sehr früh aber experimentiert Simin Tander mit ihrer Stimme: "Meine Mutter war großer Al-Jarreau-Fan und auf Urlaubsfahrten habe ich ganz natürlich das Vokalsolo aus seinem Stück 'Spain' mitgesungen." Apropos Spanien: Als Teenager durchlebt sie eine intensive Begeisterung für Flamenco, ist aber genauso fasziniert von Björk. Bis die Jazzsängerin Maria João in ihr Leben tritt: "Sie war eine Bestätigung dafür, wie ich die Stimme sehe und fühle, was mit dem Gesang alles möglich ist." Das Nordische, Klare in Gestalt der Norwegerin Sidsel Endresen, Fadosänger, Betty Carter und auch die Instrumentalsprache eines Wayne Shorter – sie alle sind weitere ideelle Wegbegleiter.
Im niederländischen Arnhem und in New York absolviert Simin Tander ihr Jazzstudium, Sheila Jordan ist eine ihrer Lehrerinnen. 2010 stellt sie sich mit ihrem holländischen Quartett (Etienne Nillesen,dr / Cord Heineking, b / Jeroen Van Vliet, p) erstmals durch das Debütalbum Wagma ("Morgentau") vor, das bereits herkömmliches Jazzvokabular aufsprengt: Die Spanne reicht von Nick Drakes "River Man" bis zum raffinierten Bolero "Obsesión", die vokale Ausdruckspalette von Scatten bis Hauchen inklusive Fantasiesprache. Mit Meredtih Monk und Gretchen Parlato vergleicht sie die begeisterte Presse.
Reise zur Quelle und zur Mündung
Für das Nachfolgewerk hat sie nun einen Raum entdeckt, den sie bisher noch nicht betreten hatte. "Es ist sowohl eine Reise zur Quelle als auch zur Mündung. Wie das Wasser natürlich seinen Weg findet, ohne etwas zu forcieren, darum geht es. Auch um ein Loslassen von Überzeugungen und Gefühlen, damit man zu seinem Kern kommen kann."
Im Zentrum des Werkes stehen drei Songs, für deren Texte sie sich der paschtunischen Sprache geöffnet hat. Lange lag dieses Erbe in ihr brach, nachdem sie einige Jahre weniger engen Kontakt zu ihren afghanischen Verwandten in Deutschland und England hatte.
"Es war eine große Herausforderung, diese Sprache zu lernen und nicht nur richtig, sondern auch schön auszusprechen. Ich konnte sie wohl ein bisschen, als ich klein war, aber bei der Aussprache musste ich mithilfe eines Freundes meines Vaters wieder ganz neu anfangen. Das Paschtu hat viele retroflexe Konsonanten, die ganz hinten im Mund gerollt werden, und trotzdem ist es sehr sanft und fließend."
Zwischen Tabla-Rhythmen und jazzigen Offbeats
Das eingangs erwähnte Liebesgedicht, dessen Verfasser und Entstehungszeit unbekannt ist, betört mit melancholischer Stimmung zu den vollmundigen Silben, das tänzerische Volkslied "Larsha Nengrahar Ta" dagegen, schwebt zwischen Tabla-Rhythmen und jazzigen Offbeats. Am tiefsten geht die Reise ins Ich jedoch in "De Kor Arman", ein Sehnsuchtslied, eingebettet in Straßensounds aus Kabul, das auf einem wiedergefundenen Gedicht von Vater Qudus basiert.
In diesem zentralen Stück wandelt sich ihre sonst so frei fließende, zarte Stimmgebung zu einem dunklen, eindringlichen Ton. Es ist, als ob sie mit ihrem Vater verschmelze.
Die Songs auf Paschtu fügen sich in eine Dramaturgie, die alle im Dienste des Wegs nach Innen stehen: Viele Wasserbilder durchziehen die Lyrik, der weite Ozean, Wolken und Eis siedeln in den englischen Versen, die von Trennung und neuer Orientierung erzählen, in denen sich das Mädchen und die Frau unterhalten.
Bei dem einen oder anderen Text hat Schwester Mina Tander, die bekannte Schauspielerin mitgemischt. Spielerische Intermezzi sind auch zu finden, etwa eine reizende Miniatur in Fantasiesprache für ihre Nichte, und schließlich eine fast erschütternd reife Adaption von Jacques Brels "La Chanson des Vieux Amants".
Potpourri der Sprachen
Durch die Wahl der verschiedenen Sprachen auf dem Album, so Tander, habe sie die Möglichkeit, bestimmte Seiten und Emotionen ihrer Persönlichkeit "zum Blühen zu bringen".
Vokale Virtuosität ist dabei gar nicht mehr ihr primäres Ziel. "Ich habe zunehmend Freude daran, ein einfaches Lied zu singen, mit simplen Mitteln zu berühren, das ist mindestens so wertvoll wie Stimmenimprovisationen."
Dass ihr dies auf "Where Water Travels Home" so schlüssig gelungen ist, liegt auch an ihren konstanten drei Mitmusikern an Piano, Bass und Drums, die wie eine Familie für sie sind. Genauso souverän wie erfindungsreich arrangieren und begleiten sie, schmücken die vertraute Standardbesetzung des Jazzgenres fantasievoll aus.
Künftig kann sich Simin Tander vorstellen, mehr in Richtung Weltmusik zu gehen, nicht nur das Wort, sondern auch Instrumente aus der Heimat ihres Vaters einfließen zu lassen. Hineingeschnuppert in diesen Kulturraum hat sie kürzlich mit der "Jazz aus der eurasischen Mitte" beim "Women In Jazz"-Festival in Halle, mit Kolleginnen aus dem Libanon, Usbekistan, Bulgarien und dem Iran an ihrer Seite.
Und ihre "Folksongs From Another Land" mit dem israelischen Gitarristen David Golek künden auch von einer anderen Seite Simin Tanders: "Diese Folksongs sind imaginär", sagt sie. "Auch in folkiger Musik geht es ja oft um Wurzeln und ums Ankommen. Aber da ich verschiedene Kulturen in mir trage, werde ich immer meine ganz persönlichen Volkslieder singen."
Stefan Franzen
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de