Erweckung in Harar
Den Kern von Soundwalk Collective bilden die amerikanischen Musiker Simone Merli und Stephan Crasneanscki, die für dieses Projekt von einer wechselnden Besetzung aus Musikern und anderen Künstlern begleitet werden. Durch die Vermählung ihrer kompositorischen Herangehensweise – von der Anthropologie über Naturbetrachtungen bis hin zu tontechnischen Erkundungsreisen – mit einem Quellenmaterial, das mit einem bestimmten geographischen Gebiet oder einer Person verbunden ist, schaffen sie Werke, die bestimmte Zeiten ebenso wie Orte zum Leben erwecken.
Dies ist nicht nur musikalisch, sondern auch spirituell und emotional zu verstehen. Das zumindest erleben Hörer von "Mummer Love". Hier agieren die Musiker aus einer ganz bestimmten Epoche und von einem ganz bestimmten Ort in der Geschichte: Arthur Rimbauds Zeit in Harar, Äthiopien, von 1880 bis 1891. Auf einer seiner Abenteuerreisen gelangte Rimbaud in das damals noch fast unbekannte Innere von Äthiopien, wo er sich als Geschäftsmann niederließ.
Rimbaud schloss Freundschaft mit Ras Makonnen, dem Gouverneur von Harar und künftigen Kaiser von Äthiopien sowie Vater von Haile Selassie. Harar war seinerzeit das Epizentrum des Sufismus in Afrika, was in dieser Aufnahme deutlich durchklingt. Noch heute ist die Stadt stark mit diesem mystischen Zweig des Islam verbunden.
Ein regelrechtes Konzeptalbum
"Mummer Love" ist zwar wie eine typische CD mit einzelnen Tracks angelegt, aber im Grunde muss man die gesamte Aufnahme als Einheit hören. Das Album feiert Rimbauds Faszination von der Welt des Sufismus und der Abkehr vom Materiellen zugunsten des Spirituellen. Wie aus den Anmerkungen zum Album hervorgeht, verließ Rimbaud Frankreich mit dem Ziel, der westlichen Erstarrung zu entkommen, und gelangte, ähnlich wie die Beats der 1950er Jahre, auf Sinnsuche nach Afrika.
Der Eröffnungstitel "Aw Abadir" ist eine unbegleitete Solostimme als sanfte und melodiöse Einführung in unsere Tour durch Harar und verschiedene Orte, die Rimbaud besuchte, nebst der Klänge, die er möglicherweise dort gehört hat.
Nach dieser Ouvertüre folgt ein zehnminütiges Stück von Philip Glass: "La Maison de Rimbaud". Zwar trifft Glass mit minimalistischen Mitteln eine strenge Auswahl, aber es gelingt ihm dennoch, eine emotionale Verbindung zu seinem Thema zu evozieren, die wohl nur wenige erreichen dürften – allerdings bei doppeltem Aufwand.
Jeder Ton sickert wie ein Regentropfen ins Ohr des Zuhörers und schwingt so sanft und beharrlich nach wie die Wellen in einer Pfütze.
Für gewöhnlich lassen wir uns vom Klangteppich aneinandergereihter Töne so überwältigen, dass wir einen einzelnen Ton und seine innere Schönheit kaum vollständig würdigen können. In gewisser Weise bildet dieses Tongedicht die Bedeutung jedes einzelnen Worts im Werk Rimbauds nach.
Wie alles, was Soundwalk Collective hervorbringt, funktioniert auch dieses Stück auf mehreren Ebenen. Neben der Klavierstimme von Glass hören wir regelmäßig Stimmen, die sich in Gesprächen und Gesängen heben und senken. In dieser Untermalung nehmen wir das Umfeld wahr, in dem Rimbaud lebte: Das tägliche Ein- und Ausatmen des Alltags in Harar.
Der dritte Titel des Albums – Eternity – ist nach Rimbauds Gedicht "L’Éternité" (dt. "Ewigkeit") benannt. Er vereint den Gesang der Sufi-Gruppe von Scheich Ibrahim, die Klavierstimme von Glass und den Vortrag von Patti Smith, die die ersten Zeilen von Rimbauds Gedicht rezitiert. Der Gesang der Gruppe, Smiths Rezitation und Glass' Klavierspiel umkreisen sich gegenseitig und formen dabei nach und nach eine Klangcollage, in der die drei Stimmen fast ineinander aufgehen.
Betonung des Einzigartigen
Dennoch schaffen sie es, ihre spezifische Identität zu bewahren. Im Unterschied zu anderen Aufnahmen, die sich mit musikalisch-kulturellen Anleihen dekorativ ummanteln, ohne deren wahre Bedeutung zu achten, nähert sich "Mummer Love" mit Respekt und reduziert die Sufi-Musik niemals zur bloßen Ornamentik.
In "Song of the Highest Tower", einer anderen Fassung eines Gedichts aus Rimbauds Werk "Une saison en enfer" (dt. "Eine Zeit in der Hölle"), rezitiert Smith wieder Auszüge als Kontrapunkt zum Gesang der Sufi-Gruppe. Hier stammt die Musik allerdings nicht von Glass, sondern von Mulatu Astatke.
Dessen Perkussion bildet den gelungenen Kontrast sowohl zu Smiths Rezitation als auch zu den Gesängen der Sufi-Gruppe. Die Klänge verweben sich miteinander und lösen sich wieder. Sie schaffen damit eine ebenso geschmeidige wie verzaubernde Textur. So wie es heißt, Sufi-Musik versetze einen in Trance, tragen uns hier die Klang- und Lyrikwellen fort und lassen uns tiefer eintauchen in die Welt von Harar – so wie Rimbaud sie möglicherweise erlebt hat.
Der Titelsong des Albums, "Mummer Love", ist ein Gedicht, das Smith eigens zu Ehren Rimbauds verfasst hat. In vielfacher Hinsicht ist es eine Ode an den Dichter, dem Smith seit jeher großen Einfluss auf ihr Werk zuschreibt. Gleichzeitig ist es eine Auseinandersetzung mit der dunkleren und vielleicht erdverbundenen Seite Rimbauds. Das Gedicht zeigt auf manchmal schrille und verstörende Weise, wie weit der Autor von der Norm des Europa im 19. Jahrhundert entfernt war und warum er sich möglicherweise in Harar so wohl fühlte.
Die Veröffentlichung von "Mummer Love" fiel nicht zufällig auf den 10. November 2019: Es ist auf den Tag genau der Todestag von Rimbaud im Jahr 1891. Ebenso wie der Dichter behandelt "Mummer Love" den Sufismus nicht als bloßes Ornament. Soundwalk Collective unternahm stattdessen große Anstrengungen auf der Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen der Kunst seiner Gastmusiker und der Poesie von Rimbaud und Smith.
Diese Aufnahme schafft es, ihren Zuhörer mit den weniger bekannten Aspekten von Rimbauds Leben vertraut zu machen und gleichzeitig in die Wunder und die Freuden der Sufi-Musik Äthiopiens einzuführen – eine wirklich bemerkenswerte Leistung. Das Album ist ein Muss für alle, die Poesie und hervorragende Musik schätzen.
Richard Marcus
© Qantara.de 2020
Aus dem Englischen von Peter Lammers