Bleiben, gehen, zurückkehren

Ein Mann sitzt in einem Café, das Foto ist schwarz-weiß
Das beliebte Café „Al-Kamal“ in Damaskus, Treffpunkt für Zurückgekehrte und Gebliebene (Foto: Qantara/Alaa Abu Farraj)

Während viele Geflüchtete nach Syrien zurückkehren, bilden sich vor den Passbehörden im Land Warteschlangen von Menschen, die ausreisen wollen. Es herrscht Ungewissheit auf der Suche nach Orientierung und Stabilität.

Von Mayar Mohanna

Das Café „Al-Kamal“ im Herzen von Damaskus gibt es seit 1936. Dort sitzt Ahmed Khanji, 42, und denkt über das Land nach, das er 2013 verlassen musste. Zuerst ging er nach Großbritannien, dann nach Kanada, wo er zwölf Jahre lang lebte. Syrien aber hat ihn nie losgelassen. 

Nachdem er 2011 in Damaskus an Demonstrationen teilgenommen hatte, wurde er bald darauf von Mitarbeitern der sogenannten Abteilung für politische Sicherheit (arab.:فرع الأمن السياسي), einem der syrischen Nachrichtendienste, verhaftet. 

Von den Monaten in Haft erzählt Ahmed heute, als spräche er über die Erfahrung eines anderen. Was ihm geschah, habe kein Trauma bei ihm hinterlassen, sagt er; er hege keinen Hass. „Es wurde auf meiner Würde herumgetrampelt, aber ich habe mich im Vergessen geübt. Deshalb kann ich über diese Erfahrung heute sprechen, ohne dass der Schmerz zurückkommt.“

Während Ahmed in Kanada war, verfolgte er die Nachrichten aus Syrien. „Ich habe syrische Radiosender gehört und meine Termine nach der Zeit in Damaskus ausgerichtet. Ich habe mir immer vorgestellt, dass ich von der Weißen Brücke zum Abbasiden-Platz laufe. So ließ ich Damaskus aufleben, Straße für Straße.“

Dennoch veränderte er sich im Exil: „Ich kam als Ahmed Khanji, Elektroingenieur, nach Kanada und wurde dort zum Community Organizer“, erklärt er. 2022 erhielt Ahmed die kanadische Staatsbürgerschaft. Er nahm den Namen Jibran an und integrierte sich in eine Gesellschaft, die ganz neu für ihn war. „Nun bin ich als Ahmed Khanji, syrisch-kanadischer Staatsbürger, in mein Land zurückgekehrt. Ahmed ist der Name, der meinem Selbst am nächsten kommt.“

Ahmad Khanji steht im Hof der Umajjaden-Moschee in Damasmus
Ahmad Khanji versucht, seine gemeinnützige Arbeit in Syrien mit Hilfe internationaler Organisationen und neustrukturierter staatlicher Einrichtungen fortzusetzen (Foto: Privat).

Nach dem Sturz Assads kehrte Ahmed zurück, angetrieben vom dringenden Bedürfnis, am Aufbau dessen mitzuwirken, was er ein „neues Syrien“ nennt. Er blickt optimistisch auf die Zukunft seines Landes. 

In seinem Studium in Großbritannien ab 2013 hatte er sich mit Nachkriegsgesellschaften beschäftigt. „Ich habe ehemalige Konfliktregionen wie den Kosovo oder Nordirland besucht“, sagt er. „Ich begriff, wie der Henker zum Gehängten wird, sobald sich der Kontext ändert, und wie Mauern und konfessionelle Spaltungen jahrzehntelang fortwirken.“ 

Jedoch fügt er hinzu: „Das Ausmaß des innersyrischen Konflikts ist nicht so groß, wie viele denken. Syrien bewegt sich rasant in Richtung Stabilität. Die Zukunft bleibt gestaltbar und wir müssen dabei eine Rolle spielen.“

In Kanada hat Ahmed eine Organisation namens „Al-Saha“ (der Platz) gegründet, die Syrerinnen und Syrer dabei unterstützte, sich in die kanadische Gesellschaft zu integrieren. Gleichzeitig wollte er dort eine syrische Diasporagemeinschaft wachsen lassen. „Alles, was ich im Ausland aufgebaut habe, waren schlechte Kopien“, sagt er, „Syrien ist das Original.“

Nun möchte Ahmed sein Engagement in Syrien fortsetzen, um den Frieden zu sichern und um den Aufbau des Landes und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern. Dabei arbeitet er mit NGOs zusammen, aber auch mit den neu strukturierten Regierungsinstitutionen.

Maria al-Schami: Bleiben oder gehen?

Maria al-Schami dagegen, eine 27-jährige Christin aus Damaskus, ist hin- und her gerissen zwischen einem starken Gefühl der Zugehörigkeit zu ihrem Land und dem Wunsch nach einem Leben, in dem sie volle Bürgerrechte genießt. Sie spüre, dass es vielleicht Zeit sei zu gehen – und dies, obwohl sie gelernt habe, unter schwierigsten politischen Bedingungen und in ständiger Bedrohung zu leben. Andererseits klammert sie sich innerlich an das Leben, das ihr vertraut ist.

Dass der islamistische Milizenführer Ahmed al-Scharaa Präsident der Übergangsregierung geworden ist, hat Marias Sorgen verstärkt. Sie hat sich sogar schon einen Reisepass ausstellen lassen, doch wann und mit welchem Ziel sie ihn nutzen wird, lässt sie noch offen. 

Maria hat große Angst, dass Freiheiten eingeschränkt werden, und glaubt, dass Syrien „lange brauchen wird, um ein sicheres und stabiles Land zu werden“. Auch dass der Krieg wieder ausbricht, sei möglich.

Eine Frau sitzt, ihre Haare verdecken ihr Gesicht
Maria al-Shami ist hin- und hergerissen zwischen Ausreise und Verbleib in Syrien. (Foto: Privat)

Ihren Job hat sie durch den Regimewechsel verloren. Sie hatte in einem Unternehmen gearbeitet, das mit dem Assad-Regime verbunden war. Finanziell abgesichert ist sie nun nicht mehr. Und selbst im Alltag sei sie oft unsicher: „Die Freiheit zu entscheiden, was ich trage, kommt mir wie ein Luxus aus anderen Zeiten vor“, sagt sie.

Sie lebe in einem Klima der „Ausgrenzung und Marginalisierung“, erzählt sie. Sie fürchtet, dass Menschen wie sie beim Wiederaufbau der Gesellschaft ausgeschlossen werden könnten, dass dabei statt ihnen Rückgekehrte zum Zuge kommen. 

Dabei gehörte Maria am 8. Dezember 2024 zu denen, die auf dem Umajjaden-Platz in Damaskus den Sturz des Assad-Regimes feierten. Doch schon während der Feierlichkeiten bangte sie um die Zukunft des Landes. Wenige Tage später nahm sie an einer Demonstration teil, die einen säkularen Staat forderte. „Wir wollen einen Staat, der alle respektiert, ohne Diskriminierung“, sagt sie.

Zu bleiben wäre für sie keine rein rationale, sondern eine emotionale Entscheidung. „Ich versuche, mich mit der neuen Realität zu arrangieren“, erklärt sie. „Ich kann meine Familie nicht verlassen. Außerdem liebe ich Damaskus. Ich liebe die konfessionelle, religiöse und ethnische Vielfalt unseres Landes, und ich glaube weiterhin daran, dass wir in der Lage sind, uns zu ändern.“ Noch hat Maria sich nicht entschieden.

Mohammed Malas: Zurück aus dem Exil

„Eine Reise in verlorene Zeiten“, so beschreibt der syrische Theaterschaffende Mohammed Malas, 42, seinen ersten Besuch in Damaskus, in das er aus Frankreich zurückgekehrt ist. Er spricht von einer zeitlichen Mauer, die zwischen ihm und der Stadt steht: „Damaskus sieht müde aus, als sei die Stadt gerade aus dem Gefängnis freigekommen. Die Menschen lachen, aber in ihren Gesichtern kann man erkennen, wie erschöpft sie sind.“

Mohammed hat Syrien mit 28 Jahren verlassen. Doch er bewegt sich heute durch die Straßen seiner Stadt, als wäre er nie weg gewesen: „Ich kann die Augen schließen, ich verirre mich nicht, erinnere mich an jede Tür.“

2011 landete er auf die Fahndungsliste der syrischen Sicherheitsapparate und musste zusammen mit seinem Zwillingsbruder Ahmed das Land verlassen. Ihre Flucht führte sie über Beirut und Kairo nach Frankreich.

Zwei Männer halten gemeinsam ein Schild in die Höhe.
Nach ihrer Flucht aus Syrien setzten die Zwillinge Mohammad und Ahmad Malas ihre Theaterarbeit in Frankreich fort (Foto: Privat).

Mohammed betont, dass sie keine Wahl hatten und die Jahre im Exil nicht einfach waren. „Ohne Kunst hätte ich nicht überlebt.“ Zunächst führten er und sein Bruder arabischsprachige Stücke auf, dann verfassten sie gemeinsam eines auf Französisch: „Les deux réfugiés“ (Die zwei Geflüchteten). „Wir erfanden uns selbst neu und verarbeiteten unser Heimweh auf der Bühne“, sagt er.

Die beiden Brüder erzählen, wie hart es am Anfang in Europa war: „Entweder du schaffst es und überlebst, oder du schaffst es nicht und gerätst in eine Depression, die dich zerstört. Das Überleben war nicht garantiert.“ Aber während der vierzehn Jahre, die sie im Ausland verbrachten, entwickelte sich in ihrem Umfeld eine vielfältige und offene Szene. „Frankreich ist zu einem Ort zum Leben geworden: kultureller Reichtum, Cafés, Theaters, Kinos, Bürgerrechte. Und wir sind dort nicht verwelkt, wir haben unsere Identität nicht verloren“, sagt Mohammed selbstbewusst.

Den Schlüssel zu seinem alten Haus in Adawi, einem Viertel in Damaskus, trug er stets bei sich. „Ich wollte immer dorthin zurückkehren, ich hatte das Gefühl, dass ich etwas zu klären hatte, ich lebte in meinen Erinnerungen. Jetzt habe ich zwei Vergangenheiten“, sagt er und spricht über Fragmentierung und seine Zugehörigkeit zu zwei Heimatländern. 

Vor dem Sturz des Regimes sei seine Beziehung zu Syrien oszillierend gewesen, „zwischen Festhalten und Loslassen“. In den ersten Jahren seines Exils verfolgte er die Entwicklungen in seinem Heimatland, zog sich danach aber zurück. „Die Revolution war vorbei, das spürte ich, sie war zu einem Waisenkind geworden.“

Und auch jetzt, da Mohammed vorübergehend nach Syrien zurückgekehrt ist, weiß er nicht genau, wie er zu dem Land steht. Einer Sache ist er sich jedoch sicher. Das letzte Jahrzehnt war eine lange Reihe der Abschiede: „von Freunden, von Damaskus – und nun vielleicht sogar von Frankreich.“

Nura Mohammed: Traum von Brasilien

Seit Brasilien im März bekanntgegeben hat, dass nun auch in der Botschaft in Damaskus humanitäre Visa beantragt werden können, wollen immer mehr Syrerinnen und Syrer nach Lateinamerika auswandern. Auch Nura Mohammed, 37, denkt darüber nach. Die promovierte Pädagogin lebt auf dem Land in der Provinz Homs, wo sich die Sicherheitslage und die Lebensbedingungen drastisch verschlechtert haben.

„Vor dem Sturz des Regimes waren es wirtschaftliche Überlegungen, heute ist es schlicht Angst“, sagt sie. Nura weiß um die möglichen Sprach- und Integrationsschwierigkeiten in Brasilien. Aber sie ist überzeugt, dass sie mit ihrer Berufserfahrung in der Bildungs- und Sozialarbeit gute Chancen haben werde, in einer neuen Gesellschaft anzukommen. Brasilien sei trotz der relativen Armut im Vergleich zu europäischen Ländern ein freundliches und neutrales Land. Dort gebe es keine Abschiebungen und weniger Rassismus.

Eine Frau, von hinten fotografiert mit langen offenen Haaren
Nura Mohammed fordert Gleichberechtigung und eine integrative Verfassung, aber sie befürchtet, dass niemand ihre Forderungen erfüllen wird. (Foto: Privat)

Vor Kurzem hat Nura alle ihre Reisedokumente übersetzen lassen; nun wartet sie auf die Entscheidung ihrer Familie. Es kann sein, dass die Kosten für eine Emigration die Familie zwingen würde, ihr Haus zu verkaufen – und das ohne Garantie auf Unterkunft und Beschäftigung in Brasilien.

Nura zählt zur Gruppe der Alawit*innen, der auch Baschar al-Assad angehört. Viele Alawit*innen sind verzweifelt. Sie waren in den letzten Monaten schlimmsten Angriffen ausgesetzt. Aber auch Auswandern birgt viele Gefahren und Unwägbarkeiten. 

Dennoch: Dass sich Syrien positiv entwickelt, hält Nura für möglich – allerdings nur, wenn eine Verfassung echte Gleichheit für alle garantiere. „Wir wollen einen Beitrag leisten, aber niemand hört uns zu. Es gibt kein Gesetz, keine Bürgerrechte, keine Sicherheit.“

 

Dieser Text ist eine bearbeitete Übersetzung des arabischen Originals. Übersetzung von Serra Al-Deen.

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