''Abwarten, bis Assad stürzt''
Fatima liegt auf einer Matte. Sie ist erschöpft, sie döst vor sich hin. Es ist früher Morgen und ein heftiger Wind zerrt an der Plane ihres Zeltes. Draußen spielen Kinder, schreit ein Baby. Zwischen den Obstbäumen hängen Frauen ihre Wäsche auf, Männer suchen nach Reisig, Mädchen holen Wasser aus einem schlammigen Bach. Doch von all dem bekommt Fatima, die Hundertjährige, kaum noch etwas mit. Ihr Gesicht ist sterbensbleich.
"Sie wollte ihre letzten Tage daheim in Dschisir al-Schugur verbringen, nicht in dieser Wildnis", sagt ihre Tochter, "aber daraus wird nun wohl nichts mehr. Nun muss sie wohl als Flüchtling sterben."
Die Wildnis, das ist ein hügeliges Terrain aus Sträuchern und Olivenhainen im westlichen Grenzgebiet zwischen Syrien und der Türkei. Es ist die Gegend, in der seit Ausbruch der Gewalt in der nordsyrischen Stadt Dschisir al-Schugur Tausende von Syrern Schutz vor dem Assad-Regime suchen. Nur Bäume, dichter Stacheldraht und eine Straße trennen die beiden Länder voneinander. Schmugglerpfade verbinden sie.
Keine Angst
Aber jetzt sind es Hilfsgüter, die hier heimlich über die Grenze gebracht werden: Brot, Decken, Milch, Windeln. Dutzende Kinder schleichen mehrmals am Tag hin und her, schleppen schwere Säcke, geben sich per Handy durch, wo die Soldaten gerade patrouillieren.
Der jüngste ist keine zehn Jahre alt, der älteste kaum zwanzig. Sie schlüpfen durch das Dickicht, stapfen durch Bäche. Angst haben sie nicht. "Die türkischen Soldaten schießen höchstens in die Luft", sagen sie. Und bei den Bauern in dem türkischen Grenzdorf Güveççi gehen sie ein und aus wie alte Bekannte.
Mehrere tausend Syrer nutzten dieses Tal bereits, um in die Türkei zu gelangen. Und von Tag zu Tag werden es mehr. Fatimas Familie aber entschied sich wie viele andere, vorerst auf syrischem Terrain zu bleiben – aus Sorge vor überfüllten Flüchtlingslagern. Hunderte Zelte und rasch zurechtgezimmerte Hütten ziehen sich nun die Grenze entlang.
Will man mit den Geflohenen aus Dschisir al-Schugur sprechen, so muss man sie auf syrischer Seite antreffen, denn schon zu Beginn des Flüchtlingsstromes in die Türkei begannen die Behörden, jeden Kontakt zu den Medien zu unterbinden.
In vier Camps, betreut von der Hilfsorganisation Roter Halbmond, brachten sie die Syrer unter, streng abgeschirmt von der Außenwelt. Mit blauer Plane versperren sie nun die Sicht durch die Gitter. Polizisten bewachen die Eingänge.
"Es geht ihnen gut", versichert ein älterer Mann, der gerade aus dem Camp von Altınözü zurückkommt, einer alten Tabakfabrik, in der jetzt 1.500 Menschen untergebracht sind. Er ist Türke, aber wie die meisten Einwohner der Region spricht er als Muttersprache Arabisch und ein Teil seiner Familie lebt auf syrischem Terrain.
"Meine Tochter ist mit ihren Kindern hier eingeliefert worden. Ich darf sie täglich eine Stunde besuchen. Außer dem bitteren syrischen Kaffee, den wir so lieben, fehlt es ihnen an nichts. Die Kinder haben sogar einen Spielplatz."
Unter den Augen des Polizisten darf er einem Bekannten am Tor sein Handy hinhalten, damit dieser seine Verwandten anrufen kann. Aber das Handy einstecken ist verboten. Keiner im Camp darf ein türkisches Telefon besitzen. All das geschehe selbstverständlich nur zum Schutz der Flüchtlinge, so rechtfertigen sich Mitarbeiter des Roten Halbmondes.
Doch die Menschen in den Lagern wollen, dass die Welt von ihnen hört. Als der türkische Außenminister Ahmet Davutoğlu im Camp von Yayladağı eintrifft, starten die Insassen eine Demonstration. "Nein zur Hisbollah, nein zum Iran, wir wollen Erdoğan" skandieren sie.
Rückendeckung für Assad aus Teheran?
Viele glauben, dass unter den Truppen, die auf die Menschenmenge schießen, iranische Spezialeinheiten sind. "Sie tragen Bärte, was in der syrischen Armee nicht erlaubt ist, und sie können gar kein Arabisch, sie haben Dolmetscher dabei", versichern mehrere Flüchtlinge im Lager auf der syrischen Seite.
Iran hat das Gerücht dementiert, doch dass Assads Regime aus Teheran Rückendeckung bekommt, ist kein Geheimnis. Die Flüchtlinge sind auch nicht gut auf Russland und China zu sprechen, die im UNO-Sicherheitsrat jeglichen Beschluss verhindern und damit Syrien freie Hand geben.
Der frisch wiedergewählte türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan hingegen ist beliebt: obwohl er Baschar al-Assad seit längerem als "Freund" bezeichnet, hat er sich inzwischen von den Gräueltaten distanziert. "Unmenschlich" sei das, was das Regime da anstelle, und demokratische Reformen müssten sofort eingeleitet werden. Die Grenze bleibe auf jedenfall offen, sicherte er zu. "Wir können unsere Tür nicht vor den fliehenden Menschen verschließen."
Erdoğan spricht oft am Telefon mit Assad und letzte Woche empfing er in Ankara den Sondergesandten aus Damaskus, Hassan Turkmani. Dieser behauptete, die Flüchtlinge kämen bereits zurück und es sei "alles vorbereitet".
Allgegenwärtige Angst
Aber wer im Zeltlager auf der syrischen Seite nachfragt, findet nur eines vor: Angst. Der junge Mann, der sich Mustafa nennt, spürt sie noch, die Angst. So groß ist sie, dass Mustafa seinen wirklichen Namen nicht nennen will. Und auch fotografieren soll man ihn nicht. Aber erzählen will er. Was seit Anfang Juni im nordsyrischen Dschisir al-Schugur passierte – der Stadt, die der Welt inzwischen als Hochburg des Widerstandes gegen das Assad-Regime gilt - Mustafa will es gesehen haben.
Er berichtet von den großen Demonstrationen in der Stadt, die friedlich verliefen, bis zum 4. Juni, einem Samstag: "An dem Tag feuerte jemand aus einem vorbeifahrenden Auto Schüsse ab. Ein Mensch starb sofort. Wir beerdigten ihn. Auf dem Rückweg vom Friedhof skandierten alle erneut "Freiheit" und "Nieder mit der Regierung".
Da begannen Scharfschützen vom Dach des Postgebäudes zu feuern. Zuerst starben vier Leute, dann wurde in die Menge geschossen, es gab wohl 30 Tote. Und dann fingen die Polizisten auf einmal an, aufeinander zu schießen.
Offenbar, so erzählt Mustafa, habe sich ein Teil der Sicherheitskräfte geweigert, auf die Demonstranten zu feuern obwohl das ihr Befehl war. Und wie meistens, wurden die Aufmüpfigen sofort von ihren Vorgesetzten erschossen. Aber diesmal hätten sie zurückgeschossen.
"Wir selber hatten keine Waffen dabei, der Schusswechsel fand nur zwischen den Polizisten statt. Es starben viele von ihnen - auf beiden Seiten." Was dann folgte, weiß keiner genau: Alle holten rasch das allernötigste aus ihren Häusern und flüchteten zur knapp zwanzig Kilometer entfernten Grenze. "Wir wussten, dass die Vergeltungsmaßnahmen furchtbar würden", sagt Mustafa.
Damaskus ließ verlauten, 120 Sicherheitskräfte seien im Kampf mit "bewaffneten Banden" in Dschisir al-Schugur gefallen und das Militär schicke sich an, die Ordnung wieder herzustellen. Eine Woche lang belagerten die Panzer die Kleinstadt. Aber es gebe keine Banden in der Gegend, sagen alle Befragten. Niemand trüge Waffen.
Kein Zurückkommen mehr
Haben sich die überlebenden Polizisten verschanzt, um den anrückenden Panzern die Stirn zu bieten? Nein, da ist sich Mustafa sicher. "Am Donnerstag, dem 9. Juni, nahm ich den kleinen Lastwagen dort und fuhr mit vier Freunden nach Dschisir al-Schugur zurück, um Sachen aus unseren Häusern zu holen. Wir hatten Angst, machten so rasch wir konnten. Aber es war keine Menschenseele in der Stadt. Weder Militär noch Aufständische."
Warum dann die Belagerung? Ein älterer Mann, der sich Abu Mohammed nennt, mit graumeliertem Bart, hat eine Antwort: „Das Regime behauptet, alle Demonstranten seien Terroristen. Selbst die hier." Er fährt einem kleinen Mädchen mit blonden Zöpfen über den Kopf. "Und damit die Welt das glaubt, müssen sie eine Schau abziehen."
Die desertierten Polizisten seien wohl in die Wälder geflüchtet, vielleicht hätten sie ihre Waffen noch dabei, aber nichts womit man gegen Panzer kämpfen könne.
Und nun? "Abwarten bis Assad stürzt", sagt Mustafa. "Gestern fuhren zwei Familien zurück nach Dschisir al-Schugur. Sie wurden sofort vom Militär erschossen. 15 Menschen."
Nein, zurück könne keiner. Er weist zu dem Zelt hinüber, in dem Fatima liegt. Assad solle sich mit dem Rücktritt beeilen: Die Hundertjährige hat nicht mehr viel Zeit.
Daniel Steinvorth
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Redaktion: Arian Fariborz/Nimet Seker/Qantara.de