Kampf ums Überleben
Die Straße von Beirut zur syrischen Grenze Richtung Damaskus führt mitten durch die Bekaa-Ebene. Bis zur Grenze ist sie gesäumt von Geschäften, Wohnhäusern und Abzweigungen zu Ortschaften. Dort, am Rand der Straße, in der Nähe einer Metzgerei, wartet Suheir mit ungefähr 150 anderen Männern, Frauen und Kindern aus Syrien auf die Verteilung einer Nahrungsmittelspende.
Erst werden ihre Namen und die Anzahl der Familienmitglieder notiert, dann wird ein Name nach dem anderen aufgerufen und das Essen verteilt. Mit Spendengeldern des deutsch-syrischen Vereins und der libanesisch-syrischen Initiative "Sawa for Syria" (Zusammen für Syrien), hat der örtliche Scheich Brot gekauft und vier Schafe schlachten lassen.
Nach ungefähr zwei Stunden hält Suheir Fleisch und Brot für sich und ihre drei Kinder in den Händen. Natürlich ist sie froh über solche Zeichen der Solidarität, aber sie ist auch gereizt: "Das ist gut, aber das wird nur für zwei Tage reichen."
Langes Warten für eine Portion Essen
Dermaßen lange in einer Traube von Menschen auf die Essensverteilung zu warten, führt ihr nicht nur vor Augen, dass sie jetzt auf Hilfe angewiesen ist, sondern sie findet es auch beschämend: "Warum werden die Syrer den Libanesen so vorgeführt? Besser als hier an der Straße zu warten wäre es doch, in das Gemeindehaus zu gehen."
Das Gefühl der Scham scheint von der Wut auf das Assad-Regime überlagert zu werden. Suheir will zeigen, wie sie jetzt leben muss: In der ersten Etage eines Rohbaus mietet sie zusammen mit zehn anderen Personen für 150 Dollar zwei Zimmer. Sie tritt auf den unbefestigten Balkon, der auf die Straße zeigt und scherzt sarkastisch: "Das ist unsere Corniche!" (die Strandpromenade von Beirut).
Irgendwie hat sie recht: Dieser schnöde Betonvorsprung hat im Gegensatz zum Inneren der trostlosen Behausung noch eine gewisse Weite. Drinnen zieht der Wind durch die rohen Betonbausteine, es gibt kein fließendes Wasser, keine Heizung und auch keine Türen. Ein paar Matratzen sind an die karge Wand gelehnt. "Es ist eine Schande, dass wir so leben müssen."
Eine ihrer Nachbarinnen zeigt bekräftigend auf den Schutt, der im offenen Erdgeschoss liegt: "Schau, was Baschar dem syrischen Volk angetan hat! Am Anfang haben wir ihn noch gemocht, aber wie er sich verhalten hat, führte dazu, dass wir ihn jetzt alle hassen."
Die libanesische Flüchtlingspolitik
Syrische Flüchtlinge können zwar derzeit noch visafrei in den Libanon einreisen, Schutz und Sicherheit finden sie dort allerdings nur bedingt. Das sicherheitspolitische Gleichgewicht im Libanon ist äußerst fragil und die Frage nach dem Pro- oder Kontra-Assad spaltet die libanesische Gesellschaft einmal mehr.
Die staatlichen Strukturen sind nur rudimentär entwickelt und die Durchsetzungsfähigkeit der libanesischen Regierung ist durch ein verkrustetes Proporzsystem, Korruption und den Machtpoker der Hizbollah oftmals blockiert. Ähnlich hat sie auch gegenüber den Flüchtlingen aus Syrien keine klare Strategie.
Dafür lässt sie internationalen und lokalen Nichtregierungsorganisationen, religiösen und säkularen Initiativen sowie internationalen staatlichen Organisationen weitgehend freie Hand für ihre Arbeit. Während die libanesische Flüchtlingspolitik sehr laissez-faire gestaltet ist, verfolgt sie in einem Punkt durchaus eine strikte Linie: keine neuen Flüchtlingslager.
Grund dafür sind die Erfahrungen mit den palästinensischen Lagern, die 1948 und 1967 errichtet wurden. Diese sollten zunächst temporär sein, blieben dann aber, entwickelten autonome Strukturen und spielten im libanesischen Bürgerkrieg eine gewichtige Rolle.
Dennoch gibt es vereinzelt sogenannte Transit- oder Begrüßungslager. Die Ortschaft al-Marj, die ungefähr fünf Kilometer vor der syrischen Grenze liegt, hat dafür ein Stück Land zur Verfügung gestellt. In Kooperation zwischen UNHCR, der saudischen Regierung und islamischen Wohlfahrtsverbänden wird dort seit Ende 2012 ein solches Begrüßungslager unterhalten.
Der Bürgermeister von al-Marj erzählt: "Hier kommen gegenwärtig etwa 300 Flüchtlinge in 36 Zelten unter. Es gibt Sanitäranlagen und Küchenräume. Es gibt auch fließendes Wasser und Elektrizität. Die Kinder haben bislang aber leider keine Möglichkeit, in die Schule zu gehen." Der örtliche Scheich und der Campleiter sind sich einig: "Die Lebensbedingungen sind hier zwar immer noch schwierig, aber deutlich besser als die vielen anderen Flüchtlingsunterkünfte der Bekaa-Ebene."
Auf engstem Raum
Ein paar Kilometer von dem Lager enfernt, wird das offenkundig. In einer kleinen Siedlung, einem ehemaligen Gefängnis an einem Berg, leben 120 Personen auf engstem Raum. Der Innenhof ist offen, die Wände sind feucht. Vier Familien teilen sich einen kalten Raum mit modrigen Wänden als Küche.
In einer Ecke stehen Öl und ein paar andere Basisvorräte. Regale, Tische oder Stühle gibt es nicht. Hilfsorganisationen haben Matratzen und Decken verteilt. Es gibt ehemalige Sammelzellen und zwei Isolierzellen, deren Eingänge jetzt mit Wolldecken verhängt sind.
Überall springen Kinder herum, auch vor dem Gefängnis ist kaum ausreichend Platz zum Spielen. Obwohl es überall am Nötigsten fehlt, macht ein Familienvater aus Aleppo deutlich: "Wir wollen keine Flüchtlinge sein. Wir wollen keine Almosen. Wir wollen Hilfe, dass Baschar verschwindet. Dann wollen wir zurückkehren und unser Land wieder aufbauen."
Doch ein schnelles Ende des Konfliktes in Syrien scheint nicht in Sicht. Jeder Tag zerschlägt die Hoffnungen auf eine baldige Rückkehr.
Schmähgesang auf Baschar al-Assad
Dass es offiziell keine Camps gibt, hat für die Flüchtlinge den Vorteil, dass sie sich frei aussuchen können, wo sie im Libanon eine Bleibe suchen. Die libanesische Tageszeitung "The Daily Star" lobte, dass es keine Camps gibt und zitiert die Direktorin des "Oxforder Refugee Studies Centre", Dawn Chatty, dass Flüchtlinge außerhalb der Camps ihre Selbstständigkeit besser bewahren können. Hinzu komme, dass auch kostengünstiger sei, die bestehende Strukturen zu unterstützen anstatt mit Camps die Infrastruktur ganzer Städte neu zu bauen.
Am gegenüber liegenden Berg, auf einem Feld, haben sich ein paar Familien zusammengetan und mit Planen, Decken, Stangen und Betonbausteinen eigenständig ein Lager errichtet. In einem Zelt sitzen die Mitglieder einer Familie um einen sparsam beheizten Ofen. Der Vater erzählt, wie sie aus einem Vorort von Damaskus fliehen mussten und dass sein Sohn bei der Freien Syrischen Armee kämpft.
Es dämmert, es ist kalt, die Nacht senkt sich über die Berge. Die Kinder machen Siegeszeichen und geben noch einen Schmähgesang auf Baschar al-Assad zum Besten. Im Libanon ist es sicherer als in Syrien, doch der Krieg auf der anderen Seite der Grenze ist ganz nah. Kämpfer überqueren in der Nacht regelmäßig die Grenze.
Die Flüchtlinge in der Bekaa-Ebene wissen nicht, was der nächste Tag bringt. Ihnen fehlt es oft an grundlegender Versorgung. Gleichzeitig kämpfen sie nicht nur ums Überleben, sondern auch um Würde, um sich selbst und den Kindern einen Sinn für die Situation zu vermitteln.
Susanne Schmelter
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de